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Gestern hat EZB-Chef Mario Draghi zum dritten Mal seit seinem Amtsantritt im vergangenen November den europäischen Leitzins gesenkt. Kredite sind nun für Banken in Europa so günstig zu haben wie nie zuvor im Euroland.
Ein bisschen Volkswirtschaftslehre wird auch Ihnen helfen, die Vorgänge besser zu verstehen: Unter Liquiditätsfalle verstehen wir Volkswirte vereinfacht gesagt die Situation, in der mehr Geld (Liquidität) nicht zu mehr Konsum, mehr Investitionen oder mehr Wachstum führt, sondern im Wirtschaftskreislauf wirkungslos verpufft. Jeder Unternehmer hat eine lange Liste an gewünschten Investitionen, glauben Sie mir :-) Doch stets muss man die Kosten der Investition gegenüber dem erwarteten Gewinn abwägen. Eine maßgebliche Komponente der Kostenseite sind Zinszahlungen für die Kredite, mit denen die Investitionen finanziert werden. Sinkt der Zins, so sinkt die Kostenseite der Investition und manches Vorhaben, das zuvor noch nicht lukrativ war, steht plötzlich im Rampenlicht. So kann die EZB mit der geldpolitischen Maßnahme der Zinssenkung die Wirtschaft ankurbeln. Dieser Effekt lässt sich sogar berechnen. Wird der Zins also von 3,5% auf 3% gesenkt, so können Banken sich günstiger Geld bei der EZB beschaffen als zuvor, und diese Ersparnis wird durch günstigere Investitionskredite an die Wirtschaft weitergegeben, die Investitionstätigkeit zieht an und damit erhält die Wirtschaft einen Wachstumsimpuls. Dies kann erneut wiederholt werden bis der Zins irgendwann so niedrig ist, dass so ziemlich alle sinnvollen Investitionen getätigt wurden. Nun folgt ein Phänomen, das wir in der Volkswirtschaft als "Liquiditätsfalle" bezeichnen. Die EZB könnte die Märkte mit weiterer Liquidität überschütten, es würden dennoch keine neuen Investitionsfinanzierungen angeboten, es würden dennoch keine weiteren Investitionen getätigt werden. Wir haben es in Europa mit der gefährlichen Situation zu tun, dass unsere Banken ihre Bilanzen aufbessern müssen. Das bedeutet unter anderem und vereinfacht gesagt, dass sich das Verhältnis von Kundeneinlagen zu ausgegebenen Krediten zugunsten der Einlagen erhöhen muss. Ein Euro Sparkapital sollte nicht mehr zu 80% als Kredit ausgegeben werden, sondern vielleicht nur noch zu 70%. Entsprechend ist es den Banken egal wie niedrig der Leitzins gerade ist, wenn das Verhältnis von Einlagen zu Krediten ausgeschöpft ist. Und so kann sich nun ein Unternehmen, selbst wenn er investieren wollte, die Zähne bei seiner Hausbank ausbeißen, er wird trotz bester Bonität und günstiger Finanzierungskosten keinen Kredit bekommen. Die Liquidität der EZB versickert wirkungslos in den krisengeschüttelten Bilanzen der Banken. Irgendwann, wenn die Bilanzen der Banken einmal wieder gesundet sein sollten, wird die überschüssige Liquidität wieder ihren Weg in Investitionskredite und damit in die Wirtschaft finden. Dann sind Warnungen vor einer neuen Blasenbildung und vor Inflation gerechtfertigt, doch davon sind wir heute noch weit entfernt. Warum also sind die Kurse in Folge der EZB-Leitzinssenkung gestern in den Keller gerauscht? Weil die zusätzliche Liquidität derzeit in den Bankbilanzen verpufft. Für die Wirtschaft war die Zinssenkung das falsche Instrument, daher sind die Aktienkurse gefallen. Man hatte sich einen direkteren Eingriff der EZB gewünscht. Das Verkünden von Staatsanleihekäufen, die derzeit von den angeschlagenen Banken kaum noch aufgekauft werden können. Das hätte den Banken nur indirekt geholfen, den Staaten aber direkt. Oder aber eine neue Liquiditätsspritze zur Verfügungstellung weiterer Investitionskredite an Unternehmen, damit hätte die EZB direkt für Wachstum gesorgt. Doch die EZB hat sich auf ihr Mandat besonnen: Geldwertstabilität. Und wenn ihre Schäfchen, die Banken, kurz davor sind, den Finanzmarkt auszutrocknen, also für Deflation zu sorgen, dann kümmert sich die EZB zu Recht zunächst um die Banken, und das hat die Leitzinssenkung tatsächlich erreicht. Heute hat die EZB der Versuchung widerstanden, in die Konjunktur einzugreifen, wie es in den USA schon seit Jahrzehnten üblich ist, und deshalb hat auch unser Bundesbankpräsident Jens Weidmann zu Recht für die Zinssenkung gestimmt. Komisch, dass auch die Bankaktien in den Keller gerauscht sind. Entweder am Markt war man sich des Ernstes der Lage für die Banken nicht bewusst, und die Entscheidung hat diese Erkenntnis gefördert. Oder aber die Bankaktien sind gemeinsam mit den anderen Aktien verkauft worden, dann sollten sie den Verlust bald wieder aufholen. Ich glaube Letzteres ist der Fall. Nach einer fulminanten Woche war es ohnehin schwer für die EZB, einen positiven Impuls zu geben. Die Märkte waren ohnehin reif für eine Verschnaufpause nach der Rallye der Vortage. Schauen wir einmal, wie sich die wichtigsten Indizes im Wochenvergleich entwickelt haben: Schauen wir einmal, wie sich die einzelnen Indizes diese Woche entwickelt haben: WOCHENPERFORMANCE DER WICHTIGSTEN INDIZES INDIZES (05.07.2012) | Woche ? Dow Jones: 12.897 | 2,3% DAX: 6.536 | 6,3% Nikkei: 8.997 | -0,1% Euro/US-Dollar: 1,24 | -1,7% Euro/Yen: 98,94 | -1,5% 10-Jahres-US-Anleihe: 1,60% | 0,02 Umlaufrendite Dt: 1,26% | 0,01 Feinunze Gold: $1.605 | 2,2% Fass Brent Öl: $100,00 | 7,1% Kupfer: 7.682 | 1,9% Baltic Dry Shipping: 1.138 | 14,5% EU-GIPFELBESCHLUSS: VOLKSWIRTE FÜHLEN SICH BETROGEN Nach dem EU-Gipfelbeschluss, der den Club-Med Ländern den Zugang zum ESM erleichtern soll, sind die Aktienmärkte nach oben ausgebrochen. Gebetsmühlenartig wird in Deutschland immer wieder darauf hingewiesen, dass Auszahlungen eben nicht bedingungslos erfolgen, doch man glaubt den Beteuerungen nicht mehr. Zu Recht: Nur der IWF kam bislang als unabhängige Institution mit festen Reformvorgaben an den Verhandlungstisch, alle anderen Verhandlungsteilnehmer befinden sich in einem komplizierten Abhängigkeitsgeflecht innerhalb der EU. Ohne den IWF am Verhandlungstisch mit Italien oder Spanien ist zu erwarten, dass Strukturreformen ebenso konsequent umgesetzt werden wie seit dem Vertrag von Maastricht... nämlich nicht ausreichend. Der Begriff "Dammbruch" ist schon häufig gefallen, auch "wehret den Anfängen" las man vor zwei Jahren zum Beginn der Griechenlandkrise häufig. Auch im Heibel-Ticker habe ich mich damals über die neue Richtung der Politik aufgeregt. Es hat sich inzwischen gezeigt, dass die damalige Aufregung gerechtfertigt war, denn die Hilfsaktionen werden immer größer, immer mehr Länder schlüpfen unter den Rettungsschirm, und inzwischen wird es geretteten Ländern auch erleichtert, indem man ihnen die Risiken für ihre zu rettenden Banken abnimmt. "Cui bono", fragen mich meine Leser immer häufiger auf der Suche nach dem Sinn dieser Aktionen: Wer profitiert? Die Politiker durch die Erhaltung Eurolands als Status quo? Angela Merkel hat heute die besten Umfragewerte seit Jahren! Die Banken durch die Erhaltung ihrer Boni? 170 Volkswirte haben sich in diesen Tagen zusammengerauft und die Politik Angela Merkels kritisiert. Ich stimme der Kritik zu, doch ich habe bislang stets die politische Komponente dagegen gehalten. Bislang. Durch die Aufweichung der ESM-Kriterien ist nun jedoch auch das letzte Fünkchen Hoffnung auf eine langfristig tragfähige Lösung der Schuldenkrise erloschen. Es wird der Tag kommen, wo der ESM überfordert ist, wo Deutschland nicht mehr genug nachschießen kann, um die weiteren Länder unter dem Rettungsschirm aufzufangen oder wo eine Volksabstimmung in Deutschland dem Treiben ein Ende setzt. Dies steht nicht unmittelbar bevor, ich erwarte das nicht innerhalb der nächsten 12 Monate. Daher werde ich in der Zwischenzeit immer wieder bullisch sein, immer wieder langfristig solide Titel für Sie vorstellen, die mit einer ordentlichen Dividendenrendite wertstabil durch turbulente Zeiten segeln sollten. Für die zwischenzeitlichen kurzfristigen Stimmungsschwankungen sind die Sentimentdaten recht hilfreich: Schauen wir einmal, wie sich die Stimmung unter Anlegern und Analysten entwickelt: SENTIMENTDATEN Analysten Empfehlungen (Anzahl Empfehlungen): Kaufen / Verkaufen 15.06.- 22.06. (205): 53% / 12% 22.06.- 29.06. (213): 40% / 16% 29.06.- 06.07. (189): 49% / 15% Kaufempfehlungen der Analysten Linde, Volkswagen VZ, Brenntag Verkaufsempfehlungen der Analysten Research in Motion, AstraZeneca, RWE Privatanleger 25. KW: 54% Bullen (142 Stimmen) 26. KW: 41% Bullen (185 Stimmen) 27. KW: 54% Bullen (166 Stimmen) Kaufempfehlungen der Privatanleger Commerzbank, ThyssenKrupp, Alstom S.A. Verkaufsempfehlungen der Privatanleger Archos S.A., Rallye S.A., Credit Agricole Die Sentiment-Daten wurden in Zusammenarbeit mit Sharewise erstellt: http://www.sharewise.com?heibel Nach der Rallye dieser Woche sind Analysten mit weiteren optimistischen Prognosen wieder etwas vorsichtiger geworden. Bei den Privatanlegern führt die gute Performance hingegen zu einem Anstieg der Laune, der Pessimismus der Vorwoche hat sich durch steigende Kurse entladen, und Privatanleger fühlen sich in ihrer bullischen Erwartung bestätigt. TOP ANALYSTENZIELE Sie wollen wissen, was die Analysten im Einzelnen für Aussagen treffen und wo sie die größten Chancen sehen? Ich habe für Sie ab sofort jede Woche eine Übersicht der Analysen mit den höchsten Kurszielen ausgearbeitet. Die Liste zeigt ganz einfach an, wo das aktuelle Kursziel des Analysten prozentual am meisten über dem aktuellen Kurs liegt: Unternehmen | Analyse v. | Kurs | Kursziel | Upside 4SC AG | 3.7. | 1,57 € | 3,60 € | 129,30% Porsche SE | 3.7. | 40,70 € | 89,00 € | 118,67% ThyssenKrupp | 3.7. | 13,32 € | 25,00 € | 87,69% IVG Immobilien | 2.7. | 1,73 € | 3,00 € | 73,41% SinnerSchrader | 3.7. | 1,69 € | 2,80 € | 65,68% Wincor Nixdorf | 4.7. | 28,55 € | 45,00 € | 57,62% BMW | 2.7. | 57,39 € | 90,00 € | 56,82% Leoni | 5.7. | 31,96 € | 50,00 € | 56,45% Aareal Bank | 5.7. | 14,11 € | 22,00 € | 55,92% Deutz | 3.7. | 4,12 € | 6,40 € | 55,34% Es handelt sich um Analysen aus dieser Woche. Bitte genießen Sie diese Übersicht mit Vorsicht. Sie wissen ja, dass häufig auch ein Eigeninteresse des Analysten für eine rosa Brille sorgen kann, weshalb Analysteneinschätzungen tendenziell optimistischer ausfallen als es die Realität anschließend erlauben würde. Aber die Übersicht gibt einen Eindruck darüber, wo die Erwartungen mit dem aktuellen Kurs am weitesten auseinander liegen. Wer letztlich Recht haben wird, der Analyst oder die Anleger, die den Kurs machen, ist in jedem Einzelfall individuell zu beurteilen. ZINSMANIPULATION IN DER CITY OF LONDON Nach dem kleinen volkswirtschaftlichen Exkurs müssen Sie sich heute noch mit einem Begriff herumschlagen, der eigentlich nur von Profis verwendet wird: Der Libor - London Interbank Offered Rate, also der Zinssatz, zu dem sich Banken untereinander Geld leihen. Banken haben jeden Tag Anlage- oder Finanzierungsbedarf. Mal wandert durch ein ungünstiges Verhältnis bei der Überweisungstätigkeit der Kunden mehr Liquidität ab, mal bleibt unter'm Strich was übrig. Wer zu wenig Liquidität hat, der ruft bei den anderen Banken an und fragt, ob er sich was leihen kann. Es wird ein Zins vereinbart, und das Geschäft ist erledigt. Am Ende des Handelstages melden die Banken den durchschnittlichen Zins, zu dem sie sich heute refinanzieren konnten, an die Bank of England und diese errechnet aus den Refinanzierungssätzen von 16 Großbanken den durchschnittlichen Refinanzierungssatz des Tages, den Libor. Die Bank of England beaufsichtigt jedoch auch gleichzeitig die Londoner Banken und achtet auf deren Gesundheitszustand. Gleichzeitig steht die Bank of England in engem Kontakt zur Politik, anders als die EZB. Im Sommer 2008, zum Höhepunkt der Finanzkrise, wurden natürlich die gemeldeten Refinanzierungssätze sehr genau beobachtet. Schließlich kann man aus dem gegenseitigen Vertrauen der Banken zueinander Rückschlüsse auf Probleme bei Einzelbanken ziehen. Sollte eine Bank also außergewöhnlich hohe Refinanzierungssätze melden, so liegt die Vermutung nah, dass diese Bank Probleme hat. Selbst wenn das (noch) nicht stimmen sollte, wissen wir spätestens seit Leo Kirch, dass schon die Vermutung ausreicht, um ernste Probleme herbeizuführen. Wenn dann ein Offizieller der Regierung in einer E-Mail darauf hinweist, dass Barclays die höchsten Finanzierungssätze meldet und dies zu Problemen führen könnte, dann denkt das Management natürlich auch über mögliche Probleme nach. Darüber hinaus wurde in der E-Mail auf zweideutige Weise darauf hingewiesen, dass die gemeldeten Refinanzierungssätze nicht immer mit den wirklichen übereinstimmen könnten. Für das Management bei Barclays war das ein klarer Hinweis darauf, dass man doch bitte einen niedrigeren Zins melden möge, damit man keine Probleme heraufbeschwört. Dies wurde dann auch fleißig getan, vor zwei Wochen ist dieser Schwindel aufgeflogen. Fraglich ist nun, wie viele Banken konsequent falsche Zahlen gemeldet haben. Erschreckend ist, dass der weltweit wichtigste Zinsanker, der Libor, jahrelang aus falschen Zahlen ermittelt wurde. Nur in Deutschland sind Festzinskredite für Immobilienfinanzierungen der Standard. In den meisten Ländern gibt es eine variable Verzinsung, die sich nach dem Libor richtet. Ganz zu schweigen von Krediten der Wirtschaft und der Banken untereinander, die zu einem großen Teil am Libor hängen. Mit anderen Worten: Ein Großteil der Finanzierungen in Europa und der ganzen Welt ist auf gelogenen Zahlen aufgebaut! In diesem Fall waren die Zahlen stets zu niedrig, was den Finanzierungskosten der Kreditnehmer entgegen kam. Doch auf dieser Grundlage wurden Kalkulationen angestellt, die nunmehr nicht mehr stimmen. Der Zins wird ansteigen und dürfte bei einigen dazu führen, dass die Finanzierungskosten nicht mehr getragen werden können. Der Libor als Thermometer der Finanzbranche hat in den vergangenen Jahren eine falsche, zu niedrige Temperatur angezeigt. Hätte man früher schon bemerkt, dass der Patient bereits 43°C Fieber oder vielleicht später 15°C hat, dann wäre manche "Bankenrettung" vielleicht nicht mehr erfolgt. Na ja, gut zu wissen, dass es nur vier Jahre gedauert hat, diesen Skandal aufzudecken. | ||
Für Inhalt und Rechtmäßigkeit dieses Beitrags trägt der Verfasser Stephan Heibel die alleinige Verantwortung. (s. Haftungshinweis) | ||
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