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Sehr verehrte Leserinnen und Leser,
die Kursrückgänge der vergangenen Tage, insbesondere in den europäischen Indizes, werden den Medien zufolge auf die Gefahr eines Brexits zurückgeführt. Es gibt mehrere Gründe dafür, dass dieser Aspekt bestenfalls eine untergeordnete Rolle spielt. Um das zu erkennen, müssen wir nur die richtigen Fragen stellen. Der wichtigste Grund für den jüngsten Kursverfall Den wichtigsten Grund für die jüngsten Kursbewegungen hatte Ihnen Sven Weisenhaus schon in der Börse-Intern vom Donnerstag genannt: „Die Zielmarke zum Verfallstag ist eigentlich die 10.000er Marke.“ Diese Zielmarke wurde am Freitag unterschritten. Die richtige Frage ist also: Gibt es einen klar erkennbaren Zusammenhang zwischen dem Bruch der 10.000er Marke und den nachfolgenden Kursbewegungen? Diese Frage muss eindeutig bejaht werden. Denn nach dem Bruch dieses wichtigen Kursniveaus kam ein Prozedere in Gang, das regelmäßigen Lesern der Börse-Intern wohlbekannt ist: Die Stillhalter sicherten ihre großen Put-Positionen bei 10.000 Punkten ab, die nun ins Geld liefen. Diese Absicherung (z.B. durch Short-Verkäufe von Futures) wirkte wie ein Verkauf im DAX. Das heißt, dass in die angelaufene Verkaufswelle hinein weitere Verkäufe getätigt wurden. Diese verstärkten die Verkaufswelle – und die Kurse fielen weiter. Das beweist der Intradaychart vom Freitag eindeutig: Genau mit dem Bruch der 10.000er Marke setzte eine starke Abwärtsdynamik ein, die in mehreren starken Schüben die Kurse rasch weiter nach unten trieb (siehe Pfeile). Erst als diese Absicherungsmaßnahmen komplett „durch“ waren, schwächte sich der Kursverfall spürbar ab. Möglicher Brexit schreckt vor allem Privatanleger auf Damit drängt sich sofort eine weitere wichtige Frage auf: Sind also die vermeintlichen Brexit-Ängste völlig irrelevant? Nein, sicherlich nicht. Natürlich wurden insbesondere viele Privatanleger durch die entsprechenden Medienberichte aufgeschreckt. Die dadurch hervorgerufene Verunsicherung ist durch die jüngsten Kursrückgänge zweifellos verstärkt worden. Das hat folglich zu weiteren Verkäufen geführt. Für die übergeordnete Marktrichtung ist allerdings die Positionierung der institutionellen Anleger maßgebend. Diese dürften kaum jetzt erst auf die Brexit-Gefahr reagieren. Sie müssten sich sonst sträflichen Leichtsinn vorwerfen lassen. Die dritte wichtige Frage lautet daher: Sind die Institutionellen völlig immun gegen die neu aufkommenden Ängste und die mediale Diskussion? Auch das ist sicherlich nicht der Fall. Und so sehen wir in den Charts – vor allem an den Devisenmärkten, die von den Institutionellen dominiert werden – aktuell wieder deutliche Ausschläge (siehe gelbe Ellipsen in den folgenden Charts). Auffällige Kursbewegungen bei Aktien und Währungen Aber diese Ausschläge sind im Vergleich zu den Kursbewegungen der vergangenen Monate eher untergeordneter Natur. Und das hat folgenden Grund: Ursprünglich war das Brexit-Referendum von der britischen Regierung offiziell für „spätestens 2017“ angekündigt worden. Die Spekulationen um einen Termin in 2016 begannen aber schon Ende 2015 im Laufe der Verhandlungen Großbritanniens mit der EU über eine Reform im britischen Sinne. Und so kommen wir zur vierten wichtigen Frage: Lässt sich in den Charts ab November/Dezember 2015 eine deutliche Reaktion erkennen, die auf eine entsprechende vorausschauende Positionierung institutioneller Anleger hindeuten könnte? Auch diese Frage können wir anhand der obigen beiden Charts klar bejahen. An den Devisenmärkten kam es ab November/Dezember zu einem starken Kursverfall des Britischen Pfunds gegenüber Euro und US-Dollar (siehe oberer Chart). An den Aktienmärkten war dagegen zu sehen, dass der britische Leitindex „Footsie“ (FTSE 100) zwar fiel, dabei aber relativ stärker blieb als der paneuropäische Leitindex STOXX 600. Das ist an der steigenden blauen Kurve im unteren Chartteil des unteren Charts zu erkennen. (Diese Kurve zeigt mit einem steigenden Verlauf eine relative Stärke des Footsie gegenüber dem STOXX 600 an, mit einem fallenden Verlauf dagegen eine relative Schwäche.) Diese Kursbewegungen machen durchaus Sinn: Als Nicht-EU-Mitglied würde Großbritannien vollends als „kleiner“ Währungsraum gegen zwei große Währungsräume (Euro-, US-Dollarraum) konkurrieren müssen. Dieser faktische Bedeutungsverlust des Pfunds wurde durch fallende Kurse eingepreist. Gleichzeitig vergrößert aber ein schwaches Pfund die Chancen britischer Unternehmen im Ausland. Folglich machen die Aktien britischer Unternehmen gegenüber anderen europäischen Aktien Boden gut. Die „Instis“ haben den Brexit längst eingepreist Diese markanten Kursbewegungen endeten aber nahezu schlagartig nach der Bekanntgabe des genauen Referendumstermins am 20. Februar 2016 (siehe entsprechende senkrechte gestrichelte Linien in den Charts). Denn damit war eine wesentliche Unsicherheit für die Märkte beseitigt. Sie konnten sich darauf konzentrieren, die jeweiligen Wahrscheinlichkeiten des Abstimmungsergebnisses zu bewerten und einzupreisen. Das führte zu einer leichten Korrektur der vorherigen Verläufe – also eine tendenzielle Schwäche des Footsie gegenüber dem STOXX 600 bzw. einer spürbaren Erholung des Pfunds gegenüber Euro und US-Dollar. Auch an den Anleihemärkten kam es zu ähnlichen markanten Kursbewegungen in den genannten Zeiträumen. Zwischenfazit: Die institutionellen Anleger dürften den Brexit bereits ab Februar/März weitgehend eingepreist haben. Nun stellt sich aber gleich die nächste Frage: Was preisen die Institutionellen eigentlich ein? Zur Beantwortung dieser Frage müssen wir ein wenig ausholen und die Psychologie der Anleger ausloten. Bekanntlich hassen die Börsianer jegliche Form der Unsicherheit. Noch mehr hassen sie aber einen völlig unvorhersehbaren Ausgang. In einem solchen Fall preisen sie in der Regel das allerschlimmste Szenario ein. Dies dürfte tendenziell von November bis Februar der Fall gewesen sein – als ein baldiger Abstimmungstermin in den Bereich des Möglichen rückte, aber die Randbedingungen noch weitgehend unklar waren. Danach, mit einem konkreten Termin, dem Verhandlungsergebnis zwischen EU und Großbritannien sowie den aktuellen Umfragewerten vor Augen, konnten sich die Institutionellen dann zielgerichteter positionieren. Die entscheidende Frage für die Börsianer Entscheidend für eine solche Positionierung ist dabei weniger das spätere tatsächliche Ergebnis. Dies bleibt vielfach weiterhin ungewiss. Entscheidend sind vielmehr die jeweiligen Szenarien für den einen wie den anderen Fall. Dabei geht es für die Börsianer wie gesagt immer um die alles entscheidende Frage, ob ein völlig unkalkulierbarer Ausgang möglich ist. Denn nur dieser wäre für die Märkte eine echte Gefahr. Aber im Fall eines Brexits (nur dieser ist dafür relevant – bei einem Verbleib Großbritanniens in der EU würde sich ja nichts ändern) dürfte es höchstwahrscheinlich zu keinen unvorhersehbaren Konsequenzen kommen. Die dann notwendigen Verhandlungen Großbritanniens mit der EU über die künftige Gestaltung der Beziehungen werden kaum über Nacht konkrete Ergebnisse bringen. Hinzu kommt, dass Großbritannien auch mit anderen Ländern die bilateralen Beziehungen neu verhandeln müsste, mit denen es bisher als EU-Land automatisch entsprechende Regularien hatte. Das alles wird schon aus Kapazitätsgründen (z.B. Personal!) ein längerer Prozess sein. In der Politik steht an dessen Ende meist ein Kompromiss, der die schärfsten Gegensätze glättet. Aus praktischen Gründen dürfte es im Fall eines Brexits zumindest eine Tendenz dahin geben, den jeweiligen Status Quo festzuschreiben. Darum haben politische Börsen kurze Beine! Dieses Kompromissstreben ist auch der Hauptgrund, warum die Börsianer sagen: Politische Börsen haben kurze Beine. Letztlich wird gerade in der Politik kaum etwas so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Das senkt die Gefahr völlig unerwarteter Überraschungen drastisch. Eine (un-)rühmliche Ausnahme war die Griechenlandkrise. Hier gab es lange Zeit und immer wieder mal tatsächlich die konkrete Gefahr eines unkontrollierten Grexits. Und ausschließlich dies führte dazu, dass die Kurse in Europa während dieser Zeit quasi permanent unter Druck standen. Eine vergleichbare Gefahr besteht, wie gesagt, beim Brexit kaum. Demzufolge werden wir bis zum Referendumstermin allenfalls kurzfristige Schwankungen sehen. Diese können zwar dem Verlauf der Umfragen und Wettquoten folgen, sollten aber nur im Ausnahmefall bzw. kurzzeitig die im Februar markierten Niveaus unterschreiten. Aktuell erleben wir eine Phase, in der vermeintlich schlechtere Umfrageergebnisse mit wieder fallenden Kursen eingepreist werden. Diese Marktschwäche wird durch die Panik aufgeschreckter Privatanleger verstärkt. Aber den stärksten Beitrag zu den jüngsten Kursverlusten liefert sicherlich der eingangs beschriebene Verfallstagseffekt. Ein Szenario für den Kursverlauf der kommenden beiden Wochen Letzterer sollte im weiteren Wochenverlauf bis zum Verfallstag am Freitag allerdings nachlassen. Auch das typische Abwarten der Anleger vor dem Ergebnis der Fed-Sitzung am Mittwoch dürfte kurzfristig eine Beruhigung der Kurse bewirken. In der nächsten Woche, der „Brexit-Woche“, können wir ebenfalls einen eher ruhigen, abwartenden Verlauf erwarten. Erst das endgültige Ergebnis könnte dann wieder stärkere Kursausschläge mit sich bringen. Aber vielleicht sehen wir ja bereits zum Wochenende bzw. in der kommenden Woche eine deutliche Erholung bei DAX und Co. Und zwar dann, wenn die Absicherungsmaßnahmen zum Verfallstag aufgelöst werden und damit die Kursbremsen wieder gelöst werden. Natürlich halten wir Sie in Ihrer Börse-Intern auch zu diesen Entwicklungen immer auf dem Laufenden. Mit besten Grüßen Ihr Torsten Ewert | ||
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