Alt 11.06.17, 21:22
Standard So tickt die Börse: Verrückte Welt
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Der DAX startet heute früh mit einem kräftigen Plus in den Tag. Was gibt es zu feiern?

WEICHER BREXIT

Die Briten haben gestern ihrer Premierministerin die absolute Mehrheit entzogen. Ihre Verhandlungsmacht beim Brexit ist damit empfindlich geschwächt, sogar ihre politische Zukunft ist zur Stunde noch fraglich. Die Briten versinken im Chaos?

Letztlich ist das Wahlergebnis dem Brexit-Referendum gleichzusetzen. Der konservative Tory-Premier Cameron hatte das Brexit-Referendum eigentlich nur angesetzt, um endlich die Zweifler an der EU mundtot zu machen und um England stärker an die EU zu binden. Der Schuss ging nach hinten los und die Tory-Wähler fühlten sich betrogen, denn es gab gar keinen Zwang, das Referendum überhaupt anzusetzen.

Theresa May übernahm entsprechend einen Scherbenhaufen, aber immerhin eine absolute Mehrheit der Tories. Doch sie wollte sich erneut die Rückendeckung der Wählerschaft holen und setzte somit, ebenfalls völlig ohne Zwang, Neuwahlen an. Nun sieht es so aus, als ob sie statt stärkerer Rückendeckung die absolute Mehrheit verspielt hat. Tory-Wähler, die sich von ihrer Partei schon beim Brexit verraten fühlten, werden nun ihrer Partei endgültig den Rücken kehren.

Einmal abgesehen von Meinungsforschern, die insbesondere auf der Insel keinen Bezug zur Realität mehr herstellen können, dürfte das Wahlergebnis niemanden überraschen. Schon die Brexit-Entscheidung fiel mit einer knappen Mehrheit für den Brexit aus. Nun gibt es erneut eine knappe Mehrheit für May und ihre Politik, den Brexit auch tatsächlich umzusetzen.

Wer, wie Ihr Autor, die Brexit-Entscheidung als negativ für Europa und für die Aktienbörse interpretiert hatte, der darf dem heutigen Wahlergebnis etwas Positives abgewinnen: Für einen "harten" Brexit ist Theresa May nun der Wind aus den Segeln genommen. Entsprechend ist die heutige Rallye im DAX nachvollziehbar.

US-POLITIK HANDLUNGSUNFÄHIG

Gestern hat FBI-Chef James Comey vor dem Geheimdienstausschuss des US-Senats ausgesagt. Seine Kernaussagen, er habe das "Gefühl", Trump habe ihn zu bestimmten Handlungen bewegen wollen, reichen nicht, um Trump aus dem Amt zu jagen. Sein Zitat von Trump: "ich hoffe, die Untersuchungen können bald eingestellt werden" ist keine Anweisung, sondern streng genommen nur ein nachvollziehbarer Wunsch des Präsidenten. Doch wie ich Trump inzwischen kennengelernt habe, war diese Aussage die Eröffnung für Verhandlungen eines Deals (Abmachung) mit dem FBI-Chef, der sich jedoch darauf nicht einließ, sondern in seiner Unabhängigkeit verletzt fühlte.

Ich habe mir einen Teil der Anhörung angeschaut und muss sagen: Comey hat es geschafft, sympathisch und loyal zu wirken. Da er keinen hinreichenden Beweis für ein Fehlverhalten von Trump hat, ließ er keine Gelegenheit aus zu betonen, dass Trump ihn nicht "aufgefordert" habe, etwas zu tun, oder das "General Flynn ein anständiger Kerl" sei. Da er aber so integer wirkt, werden viele US-Amerikaner seinem Gefühl folgen und Trump für seinen vermeintlichen Manipulationsversuch verurteilen.

Nun wird es viele Monate mit Untersuchungsausschüssen und Generalermittlern geben, immer neue Details werden ans Tageslicht gelangen und Trump sowie seine Mitarbeiter werden immer wieder in die Defensive gedrängt. Ich denke nicht, dass dies für eine Amtsenthebung reicht, aber es wird reichen, um die Trump-Agenda - Steuersenkung, Deregulierung und Steueramnestie auf ausländische Gewinne - auf den Sankt Nimmerleinstag zu verschieben.

Trump ist auf absehbare Zeit handlungsunfähig. Ich werde dies in unserem Portfolio entsprechend berücksichtigen. Unsere Trump-Aktien liegen nur mit durchschnittlich 2,1% im Plus und werden sich in den kommenden Monaten vermutlich nur wenig bewegen. Andere Bereiche, Technologie, und dort alles was mit dem autonomen Fahren, der Cloud, künstlicher Intelligenz und Augmented Reality zu tun hat, werden in den kommenden Monaten den Ton angeben.

EZB UNBEIRRT

In den vergangenen Wochen haben sich die Konjunkturdaten in Europa merklich verbessert. Insbesondere im Vergleich zu den USA, wo der Blick ins Detail enthüllt hat, dass nominelle Verbesserungen durch ausufernde Kredite, also ungesund, erwirkt wurden, zeigt sich in Europa ein sanfter Aufschwung aufgrund der strukturellen Maßnahmen, die während der Euro-Krise umgesetzt wurden. Die Kreditvergabe, eines der Ziele der Notenbankpolitik, verharrt weiterhin auf extrem niedrigem Niveau.

Zum Glück, denn dies zeigt, dass wir uns noch immer in dem Prozess befinden, die Luft aus der Spekulationsblase des Jahres 2008/2009 (Bankenkrise, Immobilienkrise, Weltwirtschaftskrise) herauszulassen. Langsam und kontrolliert. Die niedrige Kreditaufnahme führt zu einer niedrigen Umlaufgeschwindigkeit in unserem Geldsystem. Gleichzeitig wachsen die Vermögen, und diese insbesondere bei den Vermögenden. Positiv ist, dass sich das Verhältnis zwischen Kredit und Vermögen zugunsten des Vermögens entwickelt. Bedenklich ist die Vermögensverteilung: Der Unterschied zwischen arm und reich steigt, die absoluten Vermögen der Reichen steigen und komischerweise rangiert Deutschland im europäischen Vergleich der Vermögen privater Haushalte auf dem letzten Platz: Abgeschlagen von Zypern, Portugal und Italien.

Mario Draghi fühlt sich in seiner Politik bestätigt, die Märkte mit ausreichend Liquidität zu fluten, um den Kreditschrumpfungsprozess aufzufangen. Gleichzeitig mahnt er weitere strukturelle Reformen an, um die Liquiditätsflutung sinnvoll zu steuern. Es ist eine Glaubensfrage, denn der Steuerungsbedarf wird nicht offensichtlich, solange immer mehr Liquidität nachkommt. Und wenn die positive Entwicklung der Konjunkturdaten einmal auf die Gehaltsentwicklung durchschlägt, dann wird es - zumindest wenn wir die Erfahrung der Geschichte hinzuziehen - zu spät sein, um hohe Inflationsraten zu verhindern. Doch dieses Risiko geht Draghi ein.

Meine Einschätzung sieht etwas anders aus: Ich würde erwarten, dass ein Ende der Liquiditätsflutung den Schrumpfungsprozess auf der Kreditseite beendet, aber gleichzeitig zu größerem und produktiverem Wachstum führt. Auch so kann man das Verhältnis zugunsten der Vermögen weiter verbessern. Dabei profitieren jedoch dann die Gehaltsempfänger, da das Wachstum größer wird, und nicht mehr so stark die Vermögenden. Wenn es also auf den ersten Blick auch kapitalistisch anmutet, halte ich ein Ende der monetären Geschenke (anderer Begriff für Liquiditätsflutung) für sozial gerechter.

Na egal, die Reaktion der Börse: Anhaltend niedrige Zinsen in Europa belasten die Banken. Konjunktursensible Unternehmen hingegen profitieren. Nachdem in den vergangenen Jahren die DAX-Titel stark vom internationalen Interesse profitieren konnten, hat inzwischen die Suche nach den bislang übersehenen Mittelständlern begonnen.

KATAR IST IN UNGNADE GEFALLEN

Und fast schon vergessen ist die Entscheidung einer Reihe arabischer Länder, mit Katar zu brechen. Das reiche Katar ist Großinvestor bei einer Reihe deutscher Unternehmen: Deutsche Bank, Volkswagen, Siemens und Hapag Lloyd. Sollten sich die Spannungen verschärfen, sind diese Aktien in meinen Augen akut gefährdet.

Denn es ist auffällig, dass dieser überraschende Schritt kurz nach dem Besuch Donald Trumps in Saudi Arabien erfolgte. Katar liefert etwa 600.000 Fässer Öl am Tag, die weltweite Produktion liegt bei etwa 100 Mio. Fässern. Viel wichtiger ist Katar als größter Erdgas-Exporteur der Welt. Vor der Küste liegt das weltweit bislang größte entdeckte Gasvorkommen. Katar ist führend beim Export von Flüssiggas (LNG). Doch viel wichtiger: der sunnitische Emir Katars hatte Ende Mai dem schiitischen Präsidenten Ruhani zu dessen Wiederwahl gratuliert. Eine Annäherung, die dem Erzfeind des Irans, Saudi Arabien, nicht gefiel. So wirft man nun Katar die Finanzierung von Al Quaida- und IS-Ablegern vor.

Derweil hat es Deutschland endlich geschafft, den Bundeswehrstandort Incirlik, Türkei, nach Jordanien zu verlegen und damit tief in der arabischen Region deutsche Soldaten zu stationieren. Ich kann diese Entwicklungen nur mit sehr großer Besorgnis zur Kenntnis nehmen.

2022 wird die Fußball-WM in Katar stattfinden. Krieg vermeidet man durch Aufklärung. Ich gehe davon aus, dass viele Journalisten über den Fußball hinaus ein möglichst differenziertes Bild von den 2,6 Mio. Einwohnern von Katar zeichnen. Und damit können sie gar nicht früh genug anfangen.

FAZIT: VERRÜCKTE WELT

Ich fürchte, nur wenige Leser werden sich mit Freude durch meine Ausführungen zu all diesen Krisen gekämpft haben. Ein gewisses Desinteresse, eine Abstumpfung für diese Vorgänge, kann ich auch an den Finanzmärkten erkennen. Wer schaut da noch durch? Wer traut sich ein Urteil darüber zu, wer nun wirklich böse ist und wer gegebenenfalls strategische, gute Ziele verfolgt?

Da schaut man sich doch lieber wieder diejenigen Unternehmen an, die unabhängig von politischen Entscheidungen eine gute Geschäftsentwicklung aufweisen. Also wieder einmal die oben genannten Tech-Aktien.

Schauen wir uns nun die Wochenentwicklung der wichtigsten Indizes an:

WOCHENPERFORMANCE DER WICHTIGSTEN INDIZES

INDIZES (08.06.2017) Woche Δ Σ '17 Δ

Dow Jones 21.201 0,4% 7,3%
DAX 12.714 0,4% 10,7%
Nikkei 19.909 0,2% 4,2%
Shanghai A 3.299 1,5% 1,5%
Euro/US-Dollar 1,12 0,0% 6,5%
Euro/Yen 123,46 -1,1% 0,4%
10-Jahres-US-Anleihe 2,20% -0,03 -0,25
Umlaufrendite Dt 0,10% -0,01 0,11
Feinunze Gold $1.278 0,9% 10,9%
Fass Brent Öl $48,00 -6,3% -15,4%
Kupfer 5.647 0,2% 4,1%
Baltic Dry Shipping 824 -3,1% -11,2%



Da gab es doch noch viele Vorbehalte diese Woche, die einen kräftigen Anstieg der Aktienmärkte verhinderten. Nachdem nun jedoch die Wahl auf der Insel, die EZB-Entscheidung sowie die Comey-Anhärung hinter uns liegen, steht nur noch die Fed-Sitzung am kommenden Mittwoch an. Derzeit rechnet man an den Finanzmärkten mit einer Zinserhöhung um 0,25% bei gleichzeitiger Aussage, dass dies vorerst ausreichen dürfte, also zunächst keine weiteren Zinsschritte beabsichtigt seien.

So dürften wir erst im Verlauf der kommenden Woche eine Entscheidung über die Richtung an den Aktienmärkte erhalten. Das leichte Ansteigen des DAX, des Dow Jones (je +0,4%) und des Nikkei (+0,2%) deuten meiner Einschätzung auf eine gesunde, aber abwartende Verfassung der Börse. In China hingegen sorgten überraschend gute Konjunkturdaten für einen Sprung am Aktienmarkt (+1,5%).

Die verrückte Welt sorgt gleichzeitig zu den steigenden Aktienkursen für steigende Anleihepreise, was wiederum zu sinkenden Renditen führt. In den USA ist die Rendite der 10-Jahre laufenden Anleihe leicht auf 2,2% zurückgegangen, die Umlaufrendite nähert sich wieder der 0%-Marke (aktuell 0,1%). Sicherheit ist gefragt.

So auch beim Gold, das sowohl in US-Dollar als auch in Euro wieder stärker nachgefragt wird (+1%).

Die USA produzieren Öl, was das Zeug hält. Die Anzahl der Ölbohrtürme in den USA hat sich in den vergangenen zwölf Monaten von 316 auf 733 verdoppelt. Der Lagerbestand an Öl in den USA hat sich in dieser Woche überraschenderweise erhöht statt verringert. Entsprechend ist der Ölpreis wieder auf Talfahrt gegangen (-6,3%). Wie von mir vor einigen Wochen angekündigt erfolgt also keine Erholung des Ölpreises. Der Preisdruck bleibt bestehen.
Für Inhalt und Rechtmäßigkeit dieses Beitrags trägt der Verfasser Stephan Heibel die alleinige Verantwortung. (s. Haftungshinweis)  
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