Alt 13.02.17, 20:57
Standard Willkommen bei uns Scharlatanen!
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Sehr verehrte Leserinnen und Leser,

Gott und Albert Einstein – keine geringeren Autoritäten fährt ein Ökonomieprofessor in einem Artikel für die FAZ-Online-Ausgabe auf, um die Charttechnik zu verdammen.

Was ist Charttechnik – Humbug oder Gottes Plan?

Bereits im Titel warnt er seine Leser vor uns Charttechnikern. Und in seiner Einleitung stellt er die Chartanalyse rhetorisch mit heute als absurd erscheinenden antiken Prognosemethoden auf eine Stufe: dem Befragen von Orakeln, dem Studium des Vogelflugs und sogar der Begutachtung tierischer Eingeweide. Nach wenigen Sätzen ist damit klar: Chartanalyse ist in seinen Augen Humbug und Charttechniker sind Scharlatane – vor deren unheilvollem Wirken er ehrliche Anleger wie Sie, Ihr Geld und Ihren geruhsamen Schlaf bewahren will.

Aus Sicht des Autors erscheinen Charttechniker zudem ziemlich größenwahnsinnig. Sie wollen allein aus obskuren Kursmustern (die der Autor ausschließlich dem Zufall zuschreibt) „schließen, wohin Gottes Plan den Kurs in den kommenden Wochen oder Monaten schicken wird.“ Und sie preisen – so suggeriert der Autor – ihre Methodik als „Wunderwaffe“.

Als jahrelange wohlmeinende Leser von Steffens-Daily und Börse Intern denken Sie jetzt vielleicht: Was regt sich der Ewert so auf? Das Team von Stockstreet hat doch unbestreitbare Erfolge vorzuweisen! Abgesehen von den erfolgreichen Börsenbriefen ragen allein die Target-Prognosen für den DAX aus dem sonstigen Newsletter-Einerlei heraus.

Warum Erfolg nur Zufall ist

Ja, wenn es so einfach wäre! Diesen Wind hat uns der Autor wohlweislich von vornherein aus den Segeln genommen: „die Gewinne, die mancher Analyst damit macht[, … taugen] als Erfolgsausweis […] nicht“, schreibt er, schließlich gibt es „viele […], die mit dieser Methode eine Bauchlandung hinlegen und mit ihr Verluste machen.“ Das ist natürlich richtig. Nach unseren eigenen Schätzungen schaffen es nur 5 % aller Trader, die es versuchen, dauerhaft an der Börse erfolgreich zu sein. Ein unwiderlegbarer Beweis für die Nutzlosigkeit der Charttechnik – oder nicht? Nun, zumindest könnte man mit einer ähnlichen Argumentation z.B. die Erfolge von Usain Bolt als reinen Zufall abtun – nur, weil die meisten anderen Menschen im Vergleich zu ihm über die 100-Meter-Strecke schleichen.

Aber Sie haben natürlich Recht: Ich könnte den genannten Artikel einfach der ihm zustehenden Vergessenheit anheimfallen lassen. Schon die Kommentare auf der Webseite zeigen, dass selbst Leute, die charttechnisch wenig oder gar nicht vorbelastet sind, klar erkennen, wie sehr sich der Autor mit seinen Auslassungen vergaloppiert hat.

Von keinerlei Sachkenntnis getrübt

Der Grund dafür ist einfach: Ganz offensichtlich hat sich der Autor nie auch nur ansatzweise mit den Hintergründen der Charttechnik beschäftigt. Wer aber ohne eine minimale Sachkenntnis argumentiert, läuft Gefahr, sich lächerlich zu machen. Und so geht der Artikel von derart grundlegend falschen Voraussetzungen aus, dass er sich schon wieder als Lehrbeispiel eignet – und zwar nicht nur dafür, wie man es nicht machen sollte.

Deshalb nehme ich ihn zum Anlass, mal zu erläutern, was Charttechnik kann und will – und was nicht. Diese Punkte geraten in der täglichen Routine leicht in Vergessenheit. Es ist aber empfehlenswert, sie sich immer mal wieder zu veranschaulichen, um mit der Charttechnik langfristig Erfolg zu haben.

Das sind die drei großen Fragen der Charttechnik

Ich werde mich dabei auf drei Fragen beschränken. Erstens: Auf welchen Grundannahmen beruht die Charttechnik? Zweitens: Was ist ihr theoretischer Hintergrund? Und drittens: Warum funktioniert die Charttechnik überhaupt?

Beginnen wir mit den Grundannahmen der Charttechnik. Natürlich glaubt kein ernsthafter Charttechniker, dass die Börsen nach irgendeinem Plan funktionieren, den man erkennen könnte. Tatsächlich beruht die Charttechnik auf den folgenden drei Grundlagen:
1. Sämtliche Einflussfaktoren, welche die Märkte bewegen (also fundamentale, politische, psychologische und andere), sind in den bisherigen Kursen enthalten. Das gilt sogar für die Erwartungen aller Marktteilnehmer über künftige Ereignisse und Entwicklungen.
Damit hat die Charttechnik allen anderen Analysemethoden eindeutig etwas voraus. Die Fundamentalanalyse z.B. kann auch mit noch so umfassenden Daten Zukünftiges überhaupt nicht erfassen und ist deswegen schließlich selbst aufs „Orakeln“ angewiesen – und das durch ein paar Handvoll Analysten (Stichwort „Gewinnschätzungen“).

2. Insbesondere die eingepreisten Erwartungen aller Marktteilnehmer bzw. ihre Änderungen führen zu immer wiederkehrenden Kursmustern, die man erkennen und analysieren kann und die Rückschlüsse auf den weiteren Trendverlauf erlauben.

3. Die Kurse bewegen sich in der Regel in Trends. Hier reicht schon der Blick auf wenige Charts, um diese Grundannahme empirisch zu bestätigen.
Wie Chartformationen tatsächlich entstehen

Hauptkritikpunkt an der Charttechnik ist meist der zweite Punkt. Warum sollen irgendwelche Kursmuster Hinweise auf den zukünftigen Kursverlauf sein? Aber es sind eben nicht „irgendwelche“ Kursmuster. Unter den Abermillionen Kursbewegungen, welche die Kurse täglich erzeugen, sind tatsächlich die meisten zufällig oder zumindest ohne besondere Bedeutung. Aber einige wenige haben sich als verlässliche Signale erwiesen. Und nur um diese geht es in der Charttechnik!

Dazu ein Beispiel: Wenn sich ein oder mehrere große institutionellen Anleger dazu entschließen, ihre meist sehr großen Positionen an einer Aktie nach einem starken Aufwärtstrend in den Markt zu drücken, so wird dies nicht auf einmal geschehen. Sonst würde es zu einem starken Kurseinbruch kommen. Die Verkäufe werden daher langsam und vorsichtig erfolgen. Das führt dazu, dass die Umsätze ansteigen, während gleichzeitig die Trendbewegung abgewürgt wird. Und genau so entstehen typische Umkehrformation in den Charts, die immer wiederkehren (wie z.B. eine Schulter-Kopf-Schulter-Formation, SKS). Das gleiche gilt für viele andere Fälle – z.B., wenn eine Aktie auf die Einkaufsliste der institutionellen Anleger gerät oder von der Masse der Anleger entdeckt wird.

Also nicht Gottes Plan ist es, der die Kurse bewegt, sondern menschliches Handeln. Die Kursmuster haben somit einen ganz praktischen Hintergrund. Aber wie schon Mark Twain feststellte: „Geschichte wiederholt sich nicht. Sie reimt sich nur.“ Und so ist der weitere Kursverlauf nach bestimmten Chartmustern nur mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit vorherzusagen. Und genau mit diesen Wahrscheinlichkeiten beschäftigt sich die Charttechnik – nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Kennen Sie die beiden Haupttreiber für die Börsenkurse?

Die menschlichen Handlungen an der Börse entspringen jedoch nur selten rein rationalem Denken. Sie haben stets psychologische Triebfedern. Und dahinter steckt eine Gesetzmäßigkeit. Womit ich schon beim zweiten Punkt bin – der Frage nach den theoretischen Hintergründen der Charttechnik. Denn der Charttechniker hat zweifellos – anders als es der Autor suggeriert – eine theoretische Basis für seine Muster.

Diese Chartmuster sind keineswegs einfach nur irgendwelche Datenpunkte, die mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit auftreten und die der Chartist dadurch herausgefiltert hat. Entscheidend ist, dass diese Muster entstehen, weil sich die Erwartungen der Marktteilnehmer ändern. Es ist eine Binsenweisheit, dass an der Börse die Zukunft gehandelt wird. Aber da diese Zukunft niemand kennt (auch der Chartanalytiker nicht!), werden sich die Anleger nur aufgrund ihrer entsprechenden Erwartungen an der Börse engagieren.

Die wichtigsten psychologischen Treiber für unsere Erwartungen sind Gier und Angst. Beides sind Urinstinkte – nicht nur des Menschen, sondern aller höheren Lebewesen. Daher wirken diese Triebkräfte völlig unabhängig von unserem rationalen Bewusstsein. Und eben weil das so ist, sind auch die psychologischen Prozesse, von denen wir im Zustand der Euphorie oder der Angst gesteuert werden, sehr einfach strukturiert und vor allem reproduzierbar und damit faktisch konstant.

Und als Garnierung ein bisschen Ignoranz

Trendwechsel an den Börsen finden jedoch meist nur statt, wenn eine Mehrzahl der Anleger in Euphorie oder Angst verfällt. Und weil die dabei zugrundeliegenden Abläufe so unveränderlich sind, sind es auch die Muster, die sich dabei in den Charts abzeichnen. Genau das nutzt die Charttechnik aus! Vereinfacht könnte man sogar sagen: Der Aufwärtstrend ist eine Widerspiegelung der Gier, der Abwärtstrend ein Beleg für die Angst.

Generationen von Charttechnikern gingen aufgrund ihrer jahrzehntelangen Erfahrungen mit den immer wiederkehrenden Mustern nur rein intuitiv davon aus, dass diese grundlegenden psychologischen Prozesse unveränderlich sind. Inzwischen haben die Verhaltensforschung, die Verhaltensökonomie und die Neurobiologie ihnen dies mehrfach wissenschaftlich bestätigt. Insofern mutet es ein wenig ignorant an, wenn der Autor seine Auseinandersetzung mit dieser Tatsache auf die lapidare Erklärung beschränkt, dass dies „eine optimistische Annahme [ist] - abgesehen davon, dass sich auch menschliches Verhalten über die Jahre ändert.“

Eine verblüffende These – und ihre ganz einfache Widerlegung

Noch verblüffender ist die These, mit der wir Charttechniker nach Ansicht des Autors das Funktionieren unserer Methoden zu rechtfertigen versuchen – womit wir bei der dritten und letzten Frage wären, auf die ich eingehen werde. Er nennt es die „selbsterfüllende Prophezeiung“, die er als „letzten Trumpf in den Händen der Verfechter der Technischen Analyse“ sieht (der aber natürlich auch nicht sticht). Danach sollen die Kurse allein deswegen in eine bestimmte Richtung getrieben werden, weil die Marktteilnehmer die entsprechenden Chartformationen sehen und danach handeln.

Diese These hört man immer wieder von Gegnern der Charttechnik, die zu Recht feststellen, dass so etwas nicht funktionieren könne. Mit ziemlicher Sicherheit hat aber noch nie ein Charttechniker dies als Argument für das Funktionieren der Methode verwendet – und zwar aus gutem Grund.

Die Widerlegung dieser These ist nämlich so einfach, dass man sich wundert, wie ein Akademiker in diese Falle tappen konnte: Die Charttechnik wurde nämlich nicht erfunden, wie der Autor an anderer Stelle suggeriert, sondern sie wurde entdeckt. Der Unterschied ist gewaltig: Das Rad wurde erfunden, aber Amerika wurde entdeckt. Das eine wurde neu geschaffen, das andere war schon vorher da. Und auch die Chartmuster gab es schon, bevor der erste Mensch sie je gesehen hat!

Was ist der Unterschied zwischen „erfunden“ und „entdeckt“?

Wer immer die heute bekannten Chartformationen zuerst gesehen und aufgezeichnet hat (ca. in den 1930er Jahren) – er hat historische Kursverläufe in ein Diagramm gezeichnet. Alle Formationen, die er sah, waren auch ohne ihn und vorher schon da. Sie haben also funktioniert, ohne dass sie jemand erkannt, geschweige denn bewusst benutzt hätte. Und selbst danach haben lange Zeit nur wenige Menschen sich die Mühe gemacht, Charts zu zeichnen. Die Kaufkraft dieser Wenigen hätte niemals ausgereicht, um eine Prophezeiung selbsterfüllend werden zu lassen.

Und dass die Chartmuster heute – also Jahrzehnte nach ihrer Entdeckung und mit frei verfügbaren Chartprogrammen für jedermann – immer noch auftreten und funktionieren, entlarvt sowohl die „Theorie“ der selbsterfüllenden Prophezeiung als auch die These von der Wandelbarkeit menschlichen Verhaltens als Hirngespinste.

Der Artikel bietet noch viele, viele weitere Angriffspunkte. Aber es wäre der Mühe nicht wert, jeden einzelnen detailliert zu widerlegen. Wichtig ist Folgendes: Die Charttechnik hat sich als überaus nützliche Analysemethode für die Kursbewegungen an den Börsen erwiesen – allen Anfeindungen zum Trotz. Insbesondere Trader nutzen sie nachweislich erfolgreich im kurzfristigen Bereich. Sie eignet sich aber auch hervorragend zur Unterstützung langfristiger Investmententscheidungen durch die Fundamentalanalyse.

(K)eine Wunderwaffe: die Charttechnik

Sie ist jedoch keine „Wunderwaffe“ – auch wenn der Autor seinen Lesern weismachen will, dass die Charttechniker genau dies behaupten. Sie hat ihre Möglichkeiten, aber auch ihre Grenzen – ebenso wie z.B. die verschiedenen volkswirtschaftlichen Prognosemethoden.

Der entscheidende Punkt ist, dass Sie mit Hilfe der Charttechnik dem Zufall ein Schnippchen schlagen können. Mit charttechnischen Hilfsmitteln ist es möglich, die Wahrscheinlichkeit eines Trades leicht (!) über das Zufallsniveau zu heben. Und wer sich mit Spieltheorien auskennt, weiß, dass mehr nicht notwendig ist, um langfristig erfolgreich zu sein.

In diesem Sinne vertraue ich gemeinsam mit dem gesamten Team von Stockstreet darauf, dass Sie uns „Scharlatanen“ auch in Zukunft gewogen bleiben und wünsche Ihnen viel Erfolg an der Börse – ob mit Charttechnik oder ohne!

Mit besten Grüßen

Ihr Torsten Ewert
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