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"An den Aktienmärkten ist eine Fehlentwicklung zu beobachten, die wir für unsere Anlageentscheidung nutzen sollten", behauptet der Volkswirt. "Nein, die Börse hat immer Recht", erwidert der Trader. Hier stoßen zwei Welten aufeinander, die beide ihre Existenzberechtigung haben.
Volkswirte und langfristig orientierte Anleger analysieren die Konjunktur, bewerten Unternehmen und leiten aus ihren Erkenntnissen ab, wohin sich die Märkte entwickeln müssten. Läuft es kurzfristig anders, so ist das eine Gelegenheit zum Investieren. Trader interessieren sich nicht sonderlich für solche fundamental orientierten Analysen, sie versuchen kurzfristige Trends zu erkennen und springen dann auf. Kehrt sich der Trend um, hat man eben Unrecht gehabt und löst die Spekulation auf. Einen Mittelweg zwischen diesen beiden Extremen zu finden, ist nicht leicht. Ich versuche, "Fehlentwicklungen" für unsere Anlageentscheidungen zu nutzen, habe aber gleichzeitig ein Regelwerk eingezogen, um mich zu "disziplinieren". Denn das Tal der Tränen kann tief und lang sein, das möchte ich möglichst nicht durchschreiten müssen. Schauen wir uns also mal an, was derzeit eine "Fehlentwicklung" ist, und in wieweit die Aktienmärkte doch "Recht" haben. VORÜBERGEHENDER ZINSANSTIEG In der vorangegangenen Ausgabe des Heibel-Tickers vom vergangenen Freitag habe ich ausführlich dargelegt, dass der Zinsanstieg in meinen Augen nur zu einem vorübergehenden Ausverkauf führen kann. Ein großer Teil des Inflationsdrucks findet aufgrund der Vergleichsbasis statt. Das heißt, wir betrachten die Inflation stets im Jahresvergleich, aktuell also gegenüber dem Stand vom Frühjahr 2020. Erinnern Sie sich, das der Ölpreis damals NEGATIV war? Ja, der Ölpreis war ins Minus gerutscht. Wer Öl kaufte, der bekam Geld für. Mit einem Ölpreis von aktuell 68 USD/Fass Brent ist natürlich ein erheblicher Kostenanstieg für viele Einsatzstoffe unserer Wirtschaft gegenüber dem Vorjahr zu verzeichnen. Doch das ist ein vorübergehender Preissprung, der sich in dieser Form im kommenden Jahr nicht fortsetzen kann. Wir müssen also beurteilen, ob wir tatsächlich die Zinswende erlebt haben und nunmehr steigende Zinsen, abgeleitet durch den anhaltenden Inflationsdruck, für eine lange Zeit Druck auf den Aktienmarkt ausüben werden. Oder aber stellt sich dieser Druck mit entsprechenden Anpassungen in den Portfolios institutioneller Anleger als Einmaleffekt dar und kehren wir schon bald wieder zur Normalität zurück? Als Volkswirt gehe ich von letzterem Szenario aus. Doch was nutzt mir dieses Wissen, wenn die meisten Anleger anderer Meinung sind? Schauen wir uns also einmal an, was Anleger so an Meinungen vertreten. Vor Corona deutete sich bereits eine Bodenbildung beim Zinsniveau an. Die Rendite der 10 Jahre laufenden US-Staatsanleihe stabilisierte sich bei 1,5%. Durch Corona gab es eine erneute Geldflutung der Märkte und die Rendite sank auf 0,5%. Inzwischen ist - zumindest in den USA - ein Ende der Pandemie in Sicht und die Rendite ist angesprungen. Das Vor-Corona-Niveau wurde zurückerobert. Dem liegt die Erwartung zugrunde, dass die Konjunktur nach Corona durch einen Nachholeffekt besser laufen wird, als dies ohne Corona vor einem Jahr der Fall gewesen wäre. So betrachtet könnte die Rendite sogar noch weiter ansteigen. Im Februar kamen Ängste auf, dass die US-Notenbank auf diese Entwicklung reagieren könnte, indem sie die Geldschleusen schließt. Weniger Liquidität im Markt würde zwar mittel- und langfristig den Inflationsdruck mindern, es würde aber der Konjunkturentwicklung einen kräftigen Dämpfer versetzen. ERWARTUNG AN DIE NOTENBANK Mehrere Notenbankmitglieder beteuerten, dass man die Geldschleusen noch lange auf dem aktuellen Niveau offen lassen werde, jedoch bestünde aufgrund der aktuellen Zinsentwicklung keine Notwendigkeit zu weiteren Maßnahmen. Daraus könnte man ableiten, dass die Ängste der Anleger unbegründet sind. Doch an den Aktienmärkten wurden Technologieaktien ausverkauft, immer mehr Wachstumsaktien erlitten herbe Kursverluste. Was könnte der Grund dafür gewesen sein? Nun, meiner Ansicht nach handelte es sich um vorübergehende Portfolioanpassungen, um eine Rotation, wie im Heibel-Ticker vor einer Woche beschrieben. Doch die Diskussion am Finanzmarkt nahm eine andere Richtung: Was, wenn die US-Notenbank die Geldschleusen zwar nicht schließen möchte, aber durch die Entwicklungen am Markt dazu gezwungen wird? Was, wenn die Inflation an Dynamik gewinnt und die Notenbank gar nicht mehr anders kann, als die Anleihekäufe am Markt zurückzufahren? Gestern hat nun US-Notenbankchef Jay Powell zu dem Thema Stellung bezogen: Nein, selbst wenn die Inflation über das Ziel von 2% springe, sei das nur ein vorübergehender Effekt in Folge der Corona-Pandemie (siehe oben) und man werde keine Anpassung der Geldpolitik aufgrund eines solchen vorübergehenden Phänomens vornehmen. Heute lese ich in den US-Medien überall, dass Powell zugegeben hat, dass die Inflation ansteigen werden, vielleicht sogar deutlich über 2%, und dass er nichts dagegen unternehmen werde. Er würde also sehenden Auges eine Inflation zulassen, so die Schlussfolgerung. Die Rendite der 10 Jahre laufenden US-Staatsanleihe springt weiter an, die Rotation in den Portfolios der institutionellen Anleger setzt sich fort: Wachstumsunternehmen werden ausverkauft. Warum gehe ich hier so ausführlich auf den Zinsmarkt ein? Nun, der Zinsmarkt ist in seinem Volumen um ein Vielfaches größer als der Aktienmarkt. Der Löwenanteil der Gelder, die von Versicherungen angelegt werden müssen, steckt in Anleihen mit kalkulierbarem Rückfluss. Wenn also an den Zinsmärkten kleinere Anpassungen vorgenommen werden, dann hat das in der Regel große Auswirkungen auf den Aktienmarkt. Dabei spielt es gar keine Rolle, welche Meldungen derzeit von Unternehmensseite veröffentlicht werden. In der abgelaufenen Woche habe ich eine Reihe von überragend positiven Meldungen zu Unternehmen wie Twitter, Spotify oder Nvidia gelesen, dennoch sind deren Aktien ausverkauft worden. Der Trader nimmt also zur Kenntnis, dass mit Wachstumsaktien derzeit kein Blumentopf zu gewinnen ist. Der Volkswirt bekommt weiche Knie und fragt sich, wie lange diese Fehlentwicklung noch andauern kann. Schauen wir uns daher mal ein paar andere Entwicklungen an, die der Zuversicht des Volkswirts einen weiteren Dämpfer geben könnten. AKTIENRÜCKKÄUFE, DIVIDENDEN, IPOS UND SPACS Seit der großen Finanzkrise 2008/2009 sind die Dividenden, die von Unternehmen ausgeschüttet wurden, kontinuierlich angestiegen. Stärker als in den Jahren zuvor. Bis 2019 haben sich die Dividenden mehr als verdoppelt. Während Dividenden ein kalkulierbarer Rückfluss an die Aktionäre sein sollen, und daher möglichst wenig schwanken, sondern gleichmäßig wachsen sollen, werden überschüssige Barmittel gerne durch Aktienrückkäufe an die Aktionäre zurückgegeben. Wenn ein Unternehmen Aktienrückkäufe durchführt, werden von der Liquidität, die sich in der Bilanz befindet, eigene Aktien gekauft und anschließend eliminiert. Diese Aktien brauchen dann also bei der Gewinnverteilung des Unternehmens nicht mehr berücksichtigt werden. Es bleibt mehr Gewinn für die Altaktionäre übrig, selbst wenn der Unternehmensgewinn nicht steigt. Durch den Aktienrückkauf wird die Nachfrage nach den eigenen Unternehmensaktien am Markt erhöht, der Kurs entwickelt sich also dadurch allein schon stabiler. Zudem steigt dann auch der Gewinn je Aktie, was der Bewertung zugute kommt. Tolle Sache eigentlich, wenn es keine Krisen gäbe. Denn genau diese überschüssige Liquidität, die von Unternehmen für Aktienrückkäufe genutzt wird, fehlt in einer Krise, um schwere Zeiten zu durchstehen. Seit der großen Finanzkrise 2008/ 2009 hat sich das Volumen der Aktienrückkäufe in den USA verzehnfacht! Nie zuvor haben Unternehmen so viele eigene Aktien zurückgekauft wie im Jahren 2018 und 2019. Das heißt, die Anzahl der ausstehenden Aktien wurde in diesen Jahre so stark reduziert wie nie zuvor. Corona hat mit dieser Gewohnheit Schluss gemacht: Bestehende Rückkaufprogramme wurden ausgesetzt, neue gibt es kaum. Unternehmensbilanzen werden derzeit mit Cash aufgefüllt, um möglichst krisenresistent zu sein. Aktionäre, die sich daran gewähnt haben, dass die Aktie des Unternehmens durch das Unternehmen selbst gestützt wird, und dass der Gewinn je Aktie überproportional zum Unternehmenserfolg ansteigt, erkennen nun, dass ihr Unternehmen ohne diesen Effekt eigentlich ziemlich hoch bewertet ist. Während bis 2019 also die Anzahl der ausstehenden Aktien verknappt wurde, erleben wir nun nicht nur ein Ende dieser Verknappung, sondern sogar einen Trendwechsel: Mit IPOs und SPACs wird das Angebot an Aktien deutlich ausgeweitet. Allein im vergangenen Herbst sind trotz Corona-Pandemie eine ganze Reihe großer Unternehmen an die Börse gegangen: Snowflake, Palantir, McAfee, Airbnb und Doordash sind Milliardenunternehmen, die Kapital aufgesogen haben. In Deutschland ging beispielsweise CureVac an die Börse. Die Bedingungen können individuell unterschiedlich sein, es hat sich jedoch eingespielt, dass ein Großteil der Insider und Investoren in den sechs Monaten nach dem IPO keine Aktien verkaufen. Man vereinbart eine Sperrfrist, meistens also für 6 Monate. Für die oben genannten Börsengänge endet die Sperrfirst in den kommenden Monaten. Nachdem also ein erster Schwung neuer Aktien im Herbst auf den Markt traf, wird es in den kommenden Monaten weitere Aktienpakete geben, die eine neue Heimat suchen. Das Angebot an Aktien wird weiter steigen. Und dann sind da noch die SPACs, die Special Purpose Acquisition Companies. Ein Unternehmensmantel wird an die Börse gebracht, anschließend wir ein nicht börsennotiertes Unternehmen gekauft und binnen kürzester Zeit können so junge Start-Ups an die Börse gebracht werden, ohne dass sie den aufwendigen Prozess der Börsenzulassung durchlaufen müssen. Im Jahr 2020 hat sich die Anzahl der SPACs verfünffacht! Es sind fast genauso viele SPACs an die Börse gegangen, wie normale IPOs verzeichnet wurden. Dabei waren schon die normalen IPOs nah ihrem Rekordniveau aus dem Jahr 2014. Packt man beides zusammen, so gab es im Jahr 2020 mehr Börsengänge denn je. Aber es wird noch besser: Im Jahr 2021, das gerade einmal zwei Monate als ist, gab es schon genauso viele SPACs, die an die Börse gegangen sind, wie im gesamten Jahr 2020. Selbst Lilium, ein deutsches Start-Up, das im Jahr 2025 Flugtaxis zulassen möchte, blickt neidisch auf diese Entwicklung: Schwups wurde das Ziel 2025 auf 2023 vorverlegt und seither ist Lilium ein heißer Kandidat für die Übernahme durch einen SPAC. Vielleicht muss ein Start-Up mit solchen Strömungen mitschwimmen, um erfolgreich zu sein. Immerhin kann im Erfolgsfall ziemlich viel Geld in die Bilanz gespült werden. Ich halte es aber für fragwürdig, ob dadurch die Entwicklungszeit verkürzt werden kann. Aber fassen wir das Ganze mal zusammen: Die Unterstützung durch Unternehmensrückkäufe gibt es nicht mehr, der Gewinn steigt dadurch nicht mehr so schön wie früher, was zu einer optisch höheren Bewertung entsprechender Unternehmen führt. Gleichzeitig gibt es viele Börsengänge und bald auch auslaufende Sperrfristen, die das Aktienangebot erhöhen werden. Und als ob das noch nicht genug wäre, erobern SPACs die Herzen der Spekulanten. Das sind eine ganze Reihe von Entwicklungen, die zur Vorsicht mahnen. Schauen wir uns mal die Entwicklung der wichtigsten Indizes im Wochenvergleich an. WOCHENPERFORMANCE DER WICHTIGSTEN INDIZES INDIZES (04.03.2021) Woche Δ Σ '21 Δ Dow Jones 30.993 -0,6% 1,7% DAX 13.921 1,0% 1,5% Nikkei 28.864 -0,4% 5,2% Shanghai A 3.671 -0,2% 2,6% Euro/US-Dollar 1,19 -1,5% -3,1% Euro/Yen 128,95 -0,1% 1,7% 10-Jahres-US-Anleihe 1,57% 0,06 0,63 Umlaufrendite Dt -0,35% -0,03 0,21 Feinunze Gold $1.698 -1,4% -9,9% Fass Brent Öl $69,20 4,6% 34,7% Kupfer 9.266 -0,2% 18,2% Baltic Dry Shipping 1.779 4,6% 30,2% Bitcoin 47.890 -0,8% 70,1% Der Zinsanstieg macht den US-Dollar attraktiv, entsprechend ist der Wechselkurs des US-Dollars stark angesprungen (Euro -1,5%). An den Währungsmärkten ist ein solcher Sprung gigantisch. Aber dieser große Sprung ist letztlich nur ein weiteres Indiz dafür, dass an den Finanzmärkten Umschichtungen stattfinden. die Aussicht auf steigende Zinsen, wenngleich dies vom US-Notenbankchef negiert wird, lässt Kapital in den US-Dollar strömen. Die Rotation ist in den USA deutlicher zu sehen: Der Dow Jones gab in der abgelaufenen Woche 0,6% ab, während der DAX unterm' Strich noch 1% zulegen konnte - trotz heftigem Ausverkauf zum Ende der Woche. Die OPEC+ hat die Förderquotenreduktion fortgeschrieben, der Ölpreis ist entsprechend angesprungen und nährt nun ebenfalls die Theorie der steigenden Rohstoffpreise, die einen inflationären Druck erzeugen, der vielleicht sogar, anders als von US-Notenbankchef Jay Powell interpretiert, kein Einmaleffekt, sondern nachhaltig sein könnte. Hmm, da müssen wir ein Auge drauf behalten. denn auch der Baltic Dry Verschiffungsindex zeigt eine anziehende Konjunkturdynamik in China, was ebenfalls in die Theorie des Konjunkturaufschwungs bei knappen Gütern spielt. Spannende Zeiten, die da auf uns zukommen. | ||
Für Inhalt und Rechtmäßigkeit dieses Beitrags trägt der Verfasser Stephan Heibel die alleinige Verantwortung. (s. Haftungshinweis) | ||
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