Beitrag gelesen: 10567 x |
||
Der Begriff "Inflation" wird in den Finanzmedien seit Wochen rauf und runter diskutiert. Doch der wichtigste Begriff in meiner heute gewählten Überschrift ist ein anderer: "Vertrauen".
Vertrauen hat in der Volkswirtschaftslehre noch kaum Eingang gefunden, dabei ist genau das Vertrauen der entscheidende Faktor dafür, ob sich eine vorübergehende Inflation in eine galoppierende Inflation auswächst. Genauso bestimmt das Vertrauen, ob eine vorübergehende Deflation in eine tödliche Abwärtsspirale mündet. Wenn wir also abschätzen möchten, wie groß die Gefahr ausufernder Inflationsraten ist, dann müssen wir abschätzen, wie das Vertrauen der Marktteilnehmer in die Märkte ist. Funktionieren die Märkte? Werden Angebot und Nachfrage in ein Gleichgewicht gebracht? Oder sind die freien Marktkräfte durch die Politik bereits so weit außer Kraft gesetzt, dass Ungleichgewichte bestehen bleiben? Bevor wir über das Vertrauen sprechen, möchte ich Ihnen kurz erläutern, warum die Wissenschaft kaum auf diesen Begriff eingehen kann. Der Grund ist ganz einfach: Als Wissenschaft gilt nur das, was man beweisen oder widerlegen kann. Doch wie möchten Sie die Entwicklung des Vertrauens messen, geschweige denn prognostizieren? Ich würde mal recht selbstsicher behaupten, dass meine Sentiment-Erhebung, die ich wöchentlich durchführe, dieses Problem am besten angeht. Aus der Anlegerstimmung können wir ablesen, wie die Marktteilnehmer zum Markt stehen, ob sie Vertrauen in das Finanzsystem und/oder die aktuellen Bewertungen haben, oder nicht. Ich weiß, dass ich mit meiner Umfrage seit Jahren überall, sowohl bei der Finanzpresse als auch bei institutionellen Anlegern, offene Türen vorfinde. Das Problem ist also bekannt. Aber die Interpretation der Umfrageergebnisse ist dennoch eine Geschichte, bei der das Bauchgefühl mitspielt. Völlig unwissenschaftlich! Wissenschaft benötigt Fakten, am liebsten Zahlen oder am allerbesten Zahlenreihen, die dann linear extrapoliert werden können. Aber leider funktioniert der Mensch nicht linear, sondern entscheidet häufig aus dem Bauch. Wenn ich sehe, dass die Preise der Gebrauchtwagen um 30% angesprungen sind, dann muss ich zwei Erklärungsansätze gegeneinander abwiegen: Wenn ich glaube, dass es nur vorübergehend zu wenige Gebrauchtwagen gibt, dann warte ich halt ein paar Monate, fahre meinen alten Wagen halt noch ein wenig länger, bis sich das Preisniveau wieder normalisiert hat, und kaufe erst nach einer Normalisierung der Märkte einen neuen Gebrauchten. Obwohl ich also in den Statistiken der Volkswirte aufgrund des Alters meines Autos als potentieller Käufer auftauche, bleibe ich dem Markt der Gebrauchtwagen fern. Ein potentieller Käufer ist nicht gleich ein Käufer. Wenn ich jedoch befürchte, dass der Markt länger im Ungleichgewicht bleiben wird, als ich meinen alten Wagen noch fahren kann oder möchte, dann muss ich in den sauren Apfel beißen und ein um 30% teureres Auto kaufen. Damit trete ich dann als Nachfrager auf und buhle mit die anderen potentiellen Käufern um die rar gewordenen Gebrauchtwagen, ich treibe den Preis damit weiter in die Höhe. Gestern wurden in den USA Zahlen zur Konsumentenpreisentwicklung (CPI sprich: Inflation) veröffentlicht. Der Preisanstieg gegenüber dem Vorjahr betrug durchschnittlich 5,0%. Das Ziel von 2% Inflation wurde also zumindest punktuell deutlich überschritten. Doch Notenbankchef Jay Powell betont, dass diese Inflation nur vorübergehend so hoch sei. Ich habe mal ein wenig ins Detail geschaut: Größter Preistreiber sind die Preise von Gebrauchtwagen. Der Preisanstieg gegenüber dem Vergleichsmonat Mai im Corona-Jahr 2020 beträgt 30%. Allein dieser Preissprung ist rechnerisch für ein Drittel des 5%-Anstiegs im CPI verantwortlich. Ich hatte im März über das Feuer in einer japanischen Chipfabrik berichtet, die für die Produktion von Autochips produzierte. Viele Autobauer, insbesondere Ford und General Motors, aber auch Volkswagen, hatten zuvor ohnehin bereits mit leeren Lagerbeständen und kaputten Lieferketten zu kämpfen. In diese angespannte Situation hinein war der Ausfall der japanischen Produktionsstätte verheerend. Die Nachfrage nach Autos war schon während der Corona-Pandemie angestiegen. Der Individualverkehr galt als sicherer als die Öffis. Und mit der Aussicht auf die Normalisierung zog die ohnehin schon starke Nachfrage nochmals an. Doch die Produktion war vielerorts runtergefahren, im Rahmen des Cashmanagements wurden die Lager schlank gehalten und so war auch ohne die abgebrannte Fabrik bereits eine starke Unwucht im System. Es werden derzeit also zu wenig Neuwagen produziert, weil nicht ausreichend Chips verfügbar sind. Also weichen Kaufinteressenten auf den Gebrauchtwagenmarkt aus, denn dort sind Autos per sofort verfügbar ... wenn auch nur zu einem Preis, der um 30% höher liegt als vor einem Jahr. Ich glaube, den meisten potentiellen Autokäufern ist klar, dass sich dieser Preissprung nicht wiederholen wird. Die aufgestaute Nachfrage, die sich derzeit entlädt, sowie die Chip-Knappheit, werden in einem Jahr nicht mehr für einen weiteren Preissprung sorgen. Vielleicht hält sich das neue, um 30% höhere Preisniveau. Selbst dann wäre der Inflationsdruck, der von diesem erhöhten Preisniveau ausginge, gleich null. Denn die Inflation wird immer zum Vorjahr berechnet, und das war's dann. Sollten die Preise auf dem Gebrauchtwagenmarkt nächstes Jahr sogar rückläufig sein, was mich nach dieser Sondersituation nicht wundern würde, dann hätten wir sogar Deflation in diesem Marktsegment. Der zweitgrößte Effekt für die CPI-Ziffer von 5% sind Flugtickets. Wenn Sie sich vor Augen führen, dass im Mai 2020 der weltweite Flugverkehr quasi zum Erliegen gekommen war, braucht Sie das nicht zu wundern. Und an dritter Stelle steht der Ölpreis. Doch auch hier möchte ich Sie daran erinnern, dass der Ölpreis im April vergangenen Jahres ins Minus gerutscht war. Im April stand der erholte Ölpreis noch immer unter 30 USD/Fass. Ich könnte jetzt die Positionen weiter durchgehen, doch das Bild wird schon ersichtlich: Rein mathematisch gibt es viele Gründe, die für eine vorübergehende Inflation sprechen. Auch das Vertrauen dürfte durch die Preissprünge nicht beschädigt sein, denn im Detail ist den meisten Menschen doch klar, warum wir derzeit solche Preissprünge verzeichnen. Lediglich die aggregierte Inflationsziffer, hinter der sich die wenigsten Menschen Details vorstellen können, sorgt für Verunsicherung. Doch ich gehe davon aus, dass eine schlechte Berichterstattung in Massenmedien nur schwer das Vertrauen der Marktteilnehmer nachhaltig schädigen kann. Insofern haben die Aktienmärkte diese Woche besonnen reagiert, als EZB-Chefin Lagarde auf die wiederholte Frage, wann denn eine straffere Geldpolitik im EZB-Präsidium diskutiert würde, wiederholt geantwortet: Derzeit noch nicht, sondern erst, wenn es soweit ist. Doch noch ist es nicht soweit. In dieser Haltung sind die wichtigen Notenbanken weltweit gleichgeschaltet: Japan und die USA verwenden fast die gleichen Redetexte wie die EZB. Abschließend möchte ich noch auf einen weiteren Irrtum hinweisen, dem viele Redakteure in den Finanzmedien derzeit erliegen: Inflation wird als Folge einer exzessiven Geldpolitik der Notenbank betrachtet. Dass dies nicht so ist, habe ich lange Zeit durch die Erläuterung der "Umlaufgeschwindigkeit" veranschaulicht. Seit einigen Monaten habe ich auch die Modern Monetary Theory (MMT) ins Feld geführt, der zufolge die Notenbank ohnehin keine Kontrolle mehr hat, denn die Fiskalpolitik übernimmt zunehmend das Steuern von Angebot und Nachfrage. In den USA gibt es nun ein gigantisches Förderprogramm für neue Chipproduktionsstätten. Die Politik ist der Ansicht, dass der freie Markt Abhängigkeiten erzeugt hat, die man nun nicht mehr tragen möchte. Wenn ich also den Begriff "Vertrauen" als wesentlich wichtiger erachte als die Inflation, dann wissen Sie nun, warum: zum einen sind viele der Inflationstreiber nur vorübergehend, zum anderen vertrauen die Menschen der Politik, die sich derzeit der MMT bedient, um gewünschte Marktverhältnisse herbeizuführen. Am Aktienmarkt scheint man mit dieser komplexen Situation derzeit nicht viel anzufangen. Der DAX notiert auf Allzeithoch, doch für weitere Kursgewinne fehlt die Überzeugung. Schauen wir uns mal die Entwicklung der wichtigsten Indizes im Wochenvergleich an: WOCHENPERFORMANCE DER WICHTIGSTEN INDIZES INDIZES (10.06.2021) Woche Δ Σ '21 Δ Dow Jones 34.379 -0,8% 12,8% DAX 15.693 0,0% 14,4% Nikkei 28.949 0,0% 5,5% Shanghai A 3.763 -0,1% 5,1% Euro/US-Dollar 1,21 -0,6% -1,6% Euro/Yen 132,70 -0,4% 4,7% 10-Jahres-US-Anleihe 1,46% -0,10 0,52 Umlaufrendite Dt -0,30% -0,05 0,26 Feinunze Gold $1.879 -0,7% -0,2% Fass Brent Öl $72,84 1,8% 41,7% Kupfer $9.974 -1,3% 27,2% Baltic Dry Shipping $2.669 8,0% 95,4% Bitcoin $36.745 -0,7% 30,5% | ||
Für Inhalt und Rechtmäßigkeit dieses Beitrags trägt der Verfasser Stephan Heibel die alleinige Verantwortung. (s. Haftungshinweis) | ||
|