Alt 02.10.21, 13:57
Standard So tickt die Börse: Gedanken zum Ausverkauf
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Am vergangenen Freitag konnte ich mich zu keiner festen Meinung durchringen, verschob die Fertigstellung des Heibel-Tickers um einen Tag und entschied mich schließlich, vorerst keine Meinung zu haben ;-). Nachdem in vielen Publikationen die Korrektur bereits für beendet erklärt wurde, war für mich dieser Schritt zu früh.

Meine Zurückhaltung hat sich ausgezahlt: Seit Montag brechen die Finanzmärkte weltweit nochmals ein wenig ein, aktuell -3,3% im Wochenvergleich. Wichtiger als der Kurseinbruch selbst war die Zeit, die verstrichen war, und die es mir nunmehr ermöglichte, mir eine Meinung zu bilden.

Monatelang sind wir an den Finanzmärkten den Entwicklungen hinterher gehechelt: Der Coronacrash (März 2020) traf die meisten Anleger völlig unvorbereitet. Die anschließende Erholungsrallye (bis Juni 2020) wurde von vielen Anlegern ungläubig beobachtet.

Es folgte eine Sommerkonsolidierung bis zum Oktober 2020. In diese Seitwärtsbewegung hinein wurden viele Positionen aufgebaut, um dann bei den ersten Anzeichen der zweiten Corona-Welle Ende Oktober (DAX -12%) in einem heftigen Ausverkauf wieder auf den Markt geworfen zu werden.

So ging auch die Corona-Impfstoffrallye (November 2020 bis April 2021) an den meisten Anlegern vorbei, ohne dass sie investiert waren.

Seit April haben wir nun erneut über den Sommer eine Seitwärtsbewegung im DAX gesehen. Erneut haben viele Anleger ihre Lieblinge eingesammelt und warten nun darauf, dass die Aktienmärkte die dritte Phase der Rallye einläuten.

Doch der September zerrte noch stärker an den Nerven der Anleger, als dies in den zotteligen Sommermonaten bereits der Fall war: Tiefere Hochs zeugen von einer abnehmenden Dynamik. Auf der Unterseite drohen wichtige Unterstützungen um die 15.000 Punkte-Marke zu brechen.

Die Bedenken, die für diese wackelige Börsensituation verantwortlich sind, sind vielfältig:

1. ENERGIEPREISE
Wenn die Welt gegen den globalen Klimawandel vorgeht, sind Preisverwerfungen nicht zu vermeiden. Natürlich muss die Nutzung fossiler Brennstoffe zurückgefahren werden. Doch derzeit sehen wir das Gegenteil: da gibt es hausgemachte Probleme, wie die Folgen des Brexits im UK, die zu leeren Tankstellen führen. Die Nord Stream 2 Pipeline wurde zwar diesen Monat fertig gestellt, doch die Inbetriebnahme steht noch in den Sternen. Regulatorische Hindernisse über die Art und Weise des Betriebs der Pipeline werden vermutlich nur vor Gericht zur Klärung kommen.

In China wurden Produktionssparten geschlossen, um die Energieknappheit in den Griff zu bekommen. Es gibt nicht mehr genug Kohle. Seit Australische Kriegsschiffe ziemlich weit im Norden des Pazifik patrouillieren, hat China Australien mit Boykotten überzogen - unter anderen wird keine Kohle mehr aus Australien eingeführt. Nun hat China nicht genug Kohle. Öffentlichkeitswirksam wurde von Präsident Xi verkündet, man werde kein Kohlekraftwerk mehr ins Ausland exportieren. Vor dem Hintergrund der Energieknappheit in China klingt dieses klimapolitische Ziel eher wie eine Notmaßnahme zur heimischen Energieproduktion.

Doch all diese kleinen Hinweise deuten in die selbe Richtung: Die Energie ist nicht dort, wo sie gebraucht wird. Wer sich ein Bild über die Energietransporte in Europa machen möchte, kann eine gelungene Visualisierung der Echtzeit-Daten unter https://app.electricitymap.org/zone/DE sehen.

So springen die Preise für die Energieträger, mit denen am flexibelsten lokale und temporäre Engpässe behoben werden können, deutlich an: der Ölpreis ist seit März von 58 auf 75 USD/Fass WTI angesprungen. Der Gaspreis sprang im gleichen Zeitraum sogar von 2,50 auf 6,40 USD/MMBtu (Millionen British thermal units – 1 MmBtu = 26,4 Kubikmeter Gas).

In Saudi Arabien kann der Ölhahn jederzeit aufgedreht werden, doch die Transportkapazitäten für Öl sind ausgelastet. In Russland kann jederzeit mehr Gas gefördert werden, doch die Gaspipeline Nord Stream II ist zwar fertig, aber noch nicht zugelassen. In den USA konnte bis vor kurzem die Schieferölproduktion auf Knopfdruck hochgefahren werden, doch der Coronacrash mit einem zeitweilig negativen Ölpreis hat erforderliche Investitionen in die Instandhaltung dieser Infrastruktur auf ein Minimum reduziert, die Flexibilität hat gelitten. Banken finanzieren Schieferölprojekte nach den Erfahrungen des vergangenen Jahres nur noch widerwillig und zu hohen Kosten. Banken, die ESG-Kriterien erfüllen wollen, haben ihre Taschen für die Ölkonzerne ohnehin bereits zugenäht.

Kurz gesagt: Ob an der Tankstelle, ob beim Heizen Ihres Hauses im anstehenden Winter oder für Industriestrom - die Energiekosten steigen nachhaltig an. Ein beschleunigter Kohleausstieg, den ich ideologisch betrachtet sehr befürworte, dürfte diese wirtschaftliche Belastung nur verstärken. Ich hoffe, dass die FDP ausreichend Einfluss auf die neue Regierung nehmen kann, um schlimmere wirtschaftliche Folgen zu verhindern, denn bei den anderen Parteien habe ich den Eindruck, dass symbolträchtige Entscheidungen ohne Bezug zu den wirtschaftlichen Auswirkungen getroffen werden.

2. LOGISTIK
Ebenfalls eine vorübergehende Folge des Corona-Lockdowns sind die globalen Logistikprobleme: Es fehlen Mitarbeiter für Logistikunternehmen. Häfen sind überlastet, Schiffe warten vor einigen Häfen (San Franzisco) teilweise mehrere Tage, um ihre Ladung zu löschen. Hinzu kommt, dass Lockdown und Aufschwung zeitlich so dicht aufeinander folgten, dass viele Container, Maschinen, etc. bis heute noch am falschen Ort sind.

Die Bahnlogistik, mit der die meisten Container von den Häfen abtransportiert werden, sieht nicht viel besser aus. Auch hier fehlt es an Arbeitskräften und entsprechenden Kapazitäten.

Die Probleme äußern sich in sprunghaft steigenden Transportkosten: Der Container-Preisindex ist seit März von 1.500 auf inzwischen 11.000 USD/Tag gesprungen. Der Baltic Dry Verschiffungsindex für Schüttgut ist von 1.500 auf 5.000 USD gesprungen.

Wir befinden uns 13 Jahre nach der großen Finanzkrise, in der Schiffe leer über die Weltmeere schipperten, nunmehr in der gegensätzlichen Situation: Investitionen sind ausgeblieben, die Kapazitäten reichen nicht. Abhilfe über Nacht gibt es nicht, Investitionen brauchen ihre Zeit.

3. CORONA-ANGST
In den USA gehen geschätzt 10 Mio. Arbeitnehmer nicht zur Arbeit, weil sie sich nicht sicher fühlen. Das betrifft nicht nur die oben genannte Logistik-Branche, sondern ganz besonders auch die Gastronomie, die keine Kellner findet.

Großzügige Finanzhilfen haben den Druck auf viele untere Einkommensschichten verringert, sich kurzfristig einen Job suchen zu müssen. Man ist sparsam und versucht sich so lange von der Öffentlichkeit fern zu halten, bis Corona verschwunden ist. Impfgegner tragen dazu bei, dass sich Impfskeptiker oder Menschen, die aus gesundheitlichen Gründen nicht geimpft werden können, in der Öffentlichkeit nicht sicher fühlen.

Ich schätze, in Deutschland ist dieser Effekt nicht ganz so groß wie in den USA. Dennoch wird es auch bei uns Menschen geben, die ihre Arbeitsleistung derzeit dem Arbeitsmarkt vorenthalten.

Hinzu kommt natürlich noch der Effekt, dass Kinder bei Schnusten und Hupfen vorsichtshalber zu Hause bleiben sollen, was häufig auch ein Elternteil von der Arbeit abhält.

Alles in allem trifft also insbesondere bei den unteren Einkommensschichten eine große Nachfrage nach Personal auf ein geringes Angebot: die Löhne dürften also schon bald zu steigen beginnen - ganz unabhängig vom Mindestlohn.

4. INFRASTRUKTURPROGRAMME
Die Antwort der Politik hört sich in vielen Ländern gleich an: Mit Hilfe von Infrastrukturprogrammen soll der stotternden Wirtschaft auf die Beine geholfen werden.

In den USA wird seit Monaten über die Ausgestaltung des von Joe Biden vorgeschlagenen Programms im Volumen von 3,5 Bio. USD gestritten. In Deutschland dürfen wir nach der Regierungsbildung Ähnliches erwarten.

Ob Straßenbau und Brücken mit Beton, oder aber Datenleitungen mit Kupfer (Kupferpreis +100% seit März 2020), es gibt weder die Materialien, noch die Arbeiter, die das Infrastrukturprogramm umsetzen können.

5. CHIP-KNAPPHEIT
Wir sprechen über „dumme” Chips. Halbleiter, die bereits für eine bestimmte Anwendung konzeptioniert und produziert werden. Im Englischen nennt man sie auch „full feature chips”, also Halbleiter, die bereits alle gewünschten Eigenschaften haben.

Das sind nicht die Halbleiter für Computer oder Rechenzentren, die für unterschiedlichste Anwendungen genutzt werden können, sondern das sind die Chips, die in Autos, in Kaffeemaschinen, für Klimaanlagen und Ähnliches genutzt werden. Auf diesen Chips werden Stromversorgung, Kommunikation, Fehlerbehandlung etc. verwaltet: möglichst genau die erforderlichen Qualitäten zum günstigsten Preis.

Die Marge ist bei diesen Chips sehr klein. Für Taiwan Semiconductor, den weltweit größten Chip-Produzenten, machen solche Chips gerade mal 4% des Umsatzes aus, der Gewinnanteil ist noch viel kleiner.

Anders gesagt: Die weltweite Chipknappheit, von der immer die Rede ist, interessiert Taiwan Semi fast gar nicht. In Wolfsburg stehen einige Produktionsstraßen still, weil Chips fehlen, doch der globale Chip-Markt ist davon unbeeindruckt. Auch Opel schickt nun Arbeiter in Eisenach nach Hause oder in die Kurzarbeit, weil Chips fehlen. Wir dürfen uns also darauf einstellen, dass Autobauer ihre Produktionsziele nur sehr schwer erreichen werden.

6. INFLATION
Der Häuserpreisindex ist im zweiten Quartal des laufenden Jahres um 10,9% angestiegen. Das ist der höchste Anstieg seit … hmm, die Tabelle reicht nur bis 2016 zurück.

Und das, obwohl die Kosten für Immobilien, also der Hypothekenzins, seit März bereits von 0,75% auf 1% gestiegen ist: Die Finanzierung ist um 33% teurer geworden.

In den USA sieht es nicht viel besser aus. Dort wurde soeben gemeldet, dass der Häuserverkauf zuletzt um 8% angesprungen ist, erwartet wurde ein Anstieg von 1%.

„Transitory” lautet das Lieblingswort der US-Notenbank: Der Inflationsdruck, den inzwischen jeder spürt, sei „vorübergehend”. Es handele sich nur um einen Nachholeffekt, da die Preise im Coronajahr 2020 eingebrochen waren. Wenn das ursprüngliche Preisniveau wieder erreicht sei, so die Argumentation, werde der Preisdruck, also der Inflationsdruck, nachlassen.

So hat die US-Notenbank bereits das Inflationsziel angehoben und zuletzt sogar ausgesetzt mit dem Argument, der Arbeitsmarkt sei wichtiger. Die EZB hat das Inflationsziel von „nah bei, aber nicht über 2%” umformuliert in „symmetrische 2%”, was ein zeitweiliges Überschießen toleriert. Nachdem wir in den vergangenen 8 Jahren stets unter 2% waren, ist der Begriff "zeitweilig" sicherlich sehr dehnbar.

An vielen Orten und in vielen Branchen ist die Wirtschaft gut angelaufen. Doch in vielen Bereichen gibt es noch Probleme. Die Notenbanken dürfen nicht zu früh den Geldhahn zudrehen, damit diese Probleme ebenfalls noch behoben werden können, so meint es derzeit der Mainstream.

Doch wir sehen an meiner Auflistung, dass die Probleme vielfältiger Natur sind und nicht durch mehr Liquidität gelöst werden können, sondern durch Korrekturen im System.

Wenn deutsche Autobauer keine Chips bekommen, weil sie von einem globalen Chipproduzenten abhängen, den die Autoproduktion nicht interessiert, dann ist das ein strukturelles Problem und nicht mit mehr Liquidität zu lösen.

Wenn Menschen nicht zur Arbeit gehen, weil wir das Corona-Problem noch nicht gelöst haben, dann ist auch das ein strukturelles Problem.

Auch die Energiepreise lassen sich nicht mit mehr Geld lösen.

Die Antwort der Politik lautet: Infrastrukturprogramm. Wir bauen Dinge, für die es weder Arbeiter, noch Materialien gibt.

Also bleiben die Notenbanken als letzter Rettungsanker. Notenbanken können durch das Zur-Verfügung-Stellen von Liquidität Zeit kaufen, um die strukturellen Probleme zu lösen. Denn niemand schaut den Notenbanken auf die Finger. Oder besser gesagt: Nur die Politik tut dies, doch die wird nicht intervenieren, da die Notenbanken ja helfen, politische Fehler zu vertuschen.

Die Probleme, die ich hier aufgelistet habe, sind schon seit mindestens einem halben Jahr bekannt. Seither ist die Aktienmarktrallye in eine Seitwärtsbewegung übergegangen. Ich habe im Frühjahr ebenfalls noch fest behauptet, die Inflation sei vorübergehend. Dahinter steckte die Hoffnung, dass die strukturellen Probleme gelöst würden.

In den vergangenen Tagen ist mir nun wie Schuppen von den Augen gefallen, dass diese Probleme noch immer nicht gelöst sind. Im Gegenteil, die Abschottungsbestrebungen Chinas lassen befürchten, dass es auf absehbare Zeit keine Lösung geben wird. Eine Alternative zur starken Abhängigkeit von China kann ich nicht erkennen.

Ich stelle mich daher ab sofort und bis auf weiteres auf steigende Zinsen ein. Das ist ein großer Wechsel, den ich in meinem Kopf erst einmal umsetzen muss. Immerhin haben wir seit dem Ende der Achtziger Jahre fallende Zinsen in der westlichen Welt gesehen. 35 Jahre fallende Zinsen. Mein Knowhow über Märkte bei steigenden Zinsen muss ich erst aufbauen, denn damals war ich noch ein Jugendlicher.

Kurz gesagt: Es wird darauf hinaus laufen, dass Unternehmen mit hohem Cashflow zur heutigen Zeit gefragt sein werden, also Dividendentitel. Unternehmen, deren Cashflow erst in der Zukunft erfolgt, werden bei steigenden Zinsen einen zunehmend hohen Risikoabschlag in der Bewertung hinnehmen müssen. Wachstumsunternehmen werden vor diesem Hintergrund weniger attraktiv.

Zykliker könnten gut funktionieren. Wenngleich auch sie mit der Ressourcenknappheit zu kämpfen haben, so können sie doch jeden Preis durchreichen, da die Nachfrage das Angebot stark übersteigt. Maschinenbauer werden wieder interessant, weil Kapazitäten fehlen.

Schauen wir einmal, wie sich die wichtigsten Indizes im Wochenvergleich entwickelt haben:

WOCHENPERFORMANCE DER WICHTIGSTEN INDIZES


INDIZES (30.09.2021) Woche Δ Σ '21 Δ

Dow Jones 34.104 -2,0% 11,9%
DAX 15.156 -2,4% 10,5%
Nikkei 28.771 -4,9% 4,8%
Shanghai A 3.740 -1,2% 4,5%
Euro/US-Dollar 1,16 -1,1% -5,7%
Euro/Yen 128,71 -0,8% 1,5%
10-Jahres-US-Anleihe 1,49% 0,03 0,55
Umlaufrendite Dt -0,31% 0,01 0,25
Feinunze Gold $1.762 0,8% -6,4%
Fass Brent Öl $78,53 0,6% 52,8%
Kupfer $9.156 -2,1% 16,8%
Baltic Dry Shipping $5.167 11,1% 278,3%
Bitcoin $47.308 9,9% 68,0%




In der abgelaufenen Woche wurden die Highflyer des Lockdowns ausverkauft: Aktien der Gesundheitsbranche verloren durchschnittlich 5,1%, angeführt von Carl Zeiss Meditec mit -14%, Eckart & Ziegler mit -13% und Stratec Biomed. mit -10%. Auch Technologieaktien gehörten mit einem Wochenverlust von durchschnittlich -4,4% zu den größten Wochenverlierern: TeamViewer - 14% (gerade noch rechtzeitig von uns verkauft) und Delivery Hero -7%.

Auf der Gewinnerseite stehen diese Woche Rohstoffaktien mit einem Plus von durchschnittlich 0,6%: Stahlhändler Klöckner +7%. Wenn wir uns vor Augen führen, dass alle Rohstoffaktien in der DAX-160 Familie (DAX, MDAX, & SDAX) gerade mal 1% der Marktkapitalisierung beisteuern, ist das wohl nicht mehr als eine Randbemerkung wert.

Alle anderen Branchen haben diese Woche Federn gelassen.
Für Inhalt und Rechtmäßigkeit dieses Beitrags trägt der Verfasser Stephan Heibel die alleinige Verantwortung. (s. Haftungshinweis)  
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