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Vor sechs Wochen erfuhr Ihr Autor, dass in seiner unmittelbaren Nachbarschaft eine Folgeunterkunft für 700 Flüchtlinge und Obdachlose gebaut wird. Ich will Sie hier nicht mit unserem Einzelfall belästigen, aber angestoßen durch diese Änderung habe ich mich mit der gesamten Flüchtlingssituation auseinandergesetzt und möchte Ihnen ein paar meiner Überlegungen näher bringen, denn in den Medien lesen wir meines Erachtens wieder einmal viel Einheitsbrei.
Ich möchte Ihnen keine politische Meinung aufzwingen, auch wenn Sie im folgenden Text immer wieder meine Meinung herauslesen werden. Ich werde meine aktuelle Meinung aber dankend ändern, wenn ich gute Gegenargumente höre. Auch kann ich keine Lösungsvorschläge liefern. Doch die wirklichen Probleme werden meines Erachtens derzeit nicht adressiert. Und das liegt an der guten Lobbyarbeit von kleinen Interessengruppen, oder für Sie provokativer formuliert: An unserem Desinteresse an der Politik. Ich denke, ich habe einen recht guten Einblick in meine Leserschaft. Mit jährlich über 2.000 Leserbriefen, die ich alle persönlich lese und beantworte, erhalte ich immer wieder völlig überraschende Einblicke in die verschiedensten Themen. Ich kann daher sagen, dass es in meiner Leserschaft kaum extrem linke oder extrem rechte Gesinnungen gibt. Zum Glück. Bis auf wenige Ausnahmen sind Sie, liebe Leser durchweg gut informiert und in der Lage, differenzierte Betrachtungsweisen anzustellen. Aber politisch aktiv ist von Ihnen meines Wissens keiner. Da muss ich mich leider mit einschließen. Wie können wir uns dann über die fehlgeleitete Politik der vergangenen Jahre beschweren, in denen die Flüchtlingsproblematik, die Unzulänglichkeiten des Dublin-Verfahrens unter den Tisch gekehrt wurden? Welchem Politiker haben Sie gesagt, er solle sich darum kümmern, geschweige denn signalisiert, er solle dafür mehr finanzielle Mittel locker machen? Wir waren Visionäre wie Kohl (Wiedervereinigung) und Schröder (Agenda 2010) gewöhnt, die wichtige Themen eigenmächtig angegangen sind und frühzeitig Rahmenbedingungen verändert haben. In der Tagespolitik haben die beiden oft genug für fantastische Karikaturen herhalten müssen. Angela Merkel kann man kaum karikieren, sie ist hochintelligent und reagiert stets optimal. Ihr christliches Weltbild, Flüchtlingen zu helfen, auch wenn es das letzte Hemd kostet, halte ich in der akuten Situation für richtig. Diese Haltung wie eine Werbekampagne in die ganze Welt auszustrahlen ist jedoch falsch. Nun müssen im Eilverfahren die Versäumnisse der vergangenen Jahre nachgeholt werden. Und da hilft es nicht, jegliche Überlegungen sofort als links- oder rechtsextrem zu verteufeln. So wie ich Verständnis für Merkels moralische Verpflichtung habe, so kann ich auch den ungarischen Ministerpräsident Orban verstehen, der Menschen, die aus Serbien in sein Land kommen, nicht als Flüchtlinge, sondern als Migranten betrachtet. Müssen wir zur Abwendung einer humanitären Katastrophe unser gesamtes Rechtsverständnis über Bord werfen? Ich habe den Eindruck, dass unsere Politiker, getrieben durch extreme Positionen den Blick für den vernünftigen Mittelweg versperrt bekommen. Und da ist die zufriedene Mittelschicht in Deutschland gefordert, um eine differenzierte Diskussion zu ermöglichen. Urasche: Die Situation in Syrien ist aussichtslos. Ich kann keinem Syrer empfehlen, nach Hause zu gehen und für seine Sache zu kämpfen. Denn in Syrien kämpft nicht nur Assad gegen den IS und sein eigenes Volk, sondern auch Iran gegen Saudi Arabien, Kuwait und Qatar sowie Russland gegen die USA. Mit einer Pistole in der Hand wüsste ich gar nicht, auf wen ich zuerst schießen soll. Die USA halten Assad, den Schlächter von Bagdad, für unhaltbar. Russland hält eine Lösung des Konflikts ohne Assad für unmöglich, denn Assad entstammt einer Minderheit in Syrien, die so etwas wie den kleinsten gemeinsamen Nenner definiert. Wer sonst könnte Syrien einen? Assad kämpft offiziell nicht gegen sein eigenes Volk, sondern gegen einen Widerstand, der von Saudi Arabien, Qatar und Kuwait gegen ihn aufgewiegelt wurde. Das findet auch der Iran toll und unterstützt Assad daher nach Kräften. Als Spielball dieser Auseinandersetzung, deren Lösung sicher nicht auf syrischem Boden zu finden sein wird, radikalisieren sich die Gruppen, die sich weder von Assad, noch von den Rebellen vertreten fühlen, der IS entsteht. Was soll die Türkei als unmittelbarer Nachbar tun: Sich auf die Seite der USA schlagen? Oder auf die Seite Russlands? Oder ein wenig zögerlich handeln, da der IS ja ein altes Problem, die Kurden, kräftig unter Druck setzt? Jede Entscheidung oder Nicht-Entscheidung ist falsch. Ich bin in meinem Leben nur einmal auf eine Demo gegangen. Das war vor dem Einmarsch Präsident Bushs in den Irak im Jahr 2003. "Fighting for Peace is like Fucking for Virginity" stand damals auf einem Plakat geschrieben: Für Frieden zu kämpfen ist wie für Jungfreulichkeit zu vögeln. Wie passen unsere Waffenlieferungen in die ganze Welt zu dieser Einstellung? Aber ist es nicht naiv, völlig unbewaffnet seine Landesgrenzen behaupten zu wollen? Die Waffenindustrie ist nicht nur ein wichtiger Wirtschaftsfaktor in Deutschland, darauf könnten wir zur Not verzichten. Doch ohne Exporte machen unsere Rüstungskonzerne zu wenig Umsatz und Gewinn, um im wahrsten Sinne des Wortes schlagkräftige Waffensysteme zu entwickeln, mit denen man sich auf dieser Welt behaupten kann. Die linke Position, keine Waffen in die Welt zu exportieren, verkennt diesen wirtschaftlichen Zusammenhang. Die rechte Position hingegen, Waffen allein seien keine Kriegsursache, verkennt Untersuchungen die beweisen, dass von Waffenbesitz mehr Gewalt ausgeht. Wo ist hier die Diskussion der differenziert denkenden Mitte? Wo ist Ihre Position? Ich habe keine Lösung für dieses Problem. Die europäische Kooperation auf Militärebene scheitert immer wieder an unterschiedlichen Zielen einzelner Länder. Hier brauchen wir eine Diskussion über unsere gemeinsame christliche Moralvorstellung, der die Interessen einzelner Länder nachgeordnet werden müssen. Schiffe aus England, Flugzeuge aus Frankreich und Panzer aus Deutschland ist doch schon mal ein guter Anfang für eine Aufgabenteilung. Doch die Vorstellungen über eine Positionierung im Syrien-Konflikt sind zu unterschiedlich: England und Frankreich sind in meinen Augen zu US-hörig. Eine Diskussion über die gemeinsamen (christlichen?) Werte in Europa ist die Voraussetzung für ein Voranschreiten der europäischen Integration. Die Bevölkerung misstraut der Politik, weil es kein gemeinsames Ziel gibt. Sind wir nun eine christliche Kulturgemeinschaft oder nicht? Welche moralischen Grundwerte sind in Europa allgemeingültig? Welche Innen- und Außenpolitik kann daraus abgeleitet werden? Wie will sich Europa positionieren, wenn es keinen Konsens über gemeinsame Werte gibt? Wie will sich Deutschland positionieren, wenn selbst in Deutschland die historische Institution für moralische Werte, die Kirche, täglich Mitglieder verliert? Es fehlt eine klare Abgrenzung, denn wer nach allen Seite offen ist, der kann nicht ganz dicht sein (einer meiner Lieblingssprüche :-). Es ist doch gar nicht fraglich, dass jeder Mensch in Not in Deutschland Schutz erhält. Und er muss auch gar nicht seine Religion leugnen, im Gegenteil, er darf sie bei uns ausüben ... so lange sich das mit unserer Kultur verträgt. Ich verstehe beispielsweise nicht, wieso koscher geschlachtetes Fleisch (Halal), das nach Maßgabe unserer Gesundheitsrichtlinien gesundheitsschädlich ist, in den Regalen unserer Supermärkte liegt, um nur ein kleines Beispiel zu nennen, das gelöst werden muss: Entweder mit vereinten Kräften dafür sorgen, dass Halal-Fleisch unseren Vorschriften genügt, oder unsere Vorschriften sinnvoll anpassen. Wer sich gegen Halal-Fleisch ausspricht, wird sofort in die rechte Ecke gestellt. Wo ist die differenziert denkende Mitte? Wer von Ihnen hat seinem Politiker gesagt, dass gesundheitsschädliches Fleisch nicht ins Supermarktregal gehört? Damit sind wir schon mitten in der Lokalpolitik, die zu einem überwiegenden Teil die Direktiven von Oben umsetzt, ohne sich über Moral, Kultur oder Angemessenheit Gedanken zu machen. Die Fälle häufen sich, in denen die Behörden erst durch Gerichtsurteile gestoppt wurden. Hier werden Bürgerrechte ausgehebelt, weil eine Anordnung von "Oben" anders nicht umsetzbar ist. Es ist vielen Lokalpolitikern lieber, vom Gericht gestoppt zu werden, als frühzeitig unerfüllbaren vorgaben entgegenzutreten, wie beispielsweise der Magdeburger Bürgermeister Lutz Trümper, der sein Parteibuch abgegeben hat. Trümper fühlt sich alleingelassen von Ihnen, liebe Mitte. Politisch besser, wenn auch für die Flüchtlinge unverträglicher, ist ein Festhalten an unmöglichen Forderungen, bis das Gericht den Politiker stoppt. Der Politiker ist sich des Rückhalts der Gutmenschen sicher während die Kläger in die rechte Ecke gestellt werden. Meine Nachbarschaft, bestehend aus Akademiker-Eltern mit den Berufen wie bspw. Architekten, Richtern, Journalisten, Informatikern, Ärzten, Photographen, Chemikern, ... wird in ein paar Wochen vermutlich ebenfalls von der Presse mit brauner Soße überzogen werden. Dabei gibt es niemanden, der nicht hier vor Ort helfen möchte. Kritik richtet sich nur gegen die dauerhafte Umgehung der Bürgerrechte aufgrund eines akuten Notstands, nicht gegen die akut notwendige Hilfe. Na, nun bin ich doch auf unsere Situation hier vor Ort eingegangen, tut mir leid. Was definiert denn die Grenzen unserer Aufnahmekapazität? Geld? Personal? Platz? Kultur? Am Geld scheitert es schon lange nicht mehr, das wird einfach gedruckt. Personal ist da schon schwerer, das Problem lässt sich aber mittelfristig mit Geld beheben. Platz ist schon eine sehr subjektive Sache, eng verbunden mit der Kultur. Je stärker die eigene Identität, desto toleranter kann man Fremde aufnehmen. "Good fences make good neighbors" sagen die Engländer: Gute Zäune ermöglichen eine gute Nachbarschaft. Übertragen heißt das natürlich auch, dass eine genaue Abgrenzung nötig ist, was unsere Kultur ausmacht. Darauf aufbauend kann dann jeder Fremde seine Nische in unserer Kultur finden. Ohne eine genaue Wertedefinition hingegen wird die ganze Geschichte aus dem Ruder laufen. Werte zu definieren ist natürlich eine schwere Angelegenheit, denn mit unserer links-rechts-geschalteten Presse wird jede Positionierung sofort in die eine oder andere Ecke eingeordnet. Also erneut und abschließend nochmals mein Aufruf: Überlassen Sie das politische Feld nicht den kleinen Interessengruppen, sondern sorgen Sie dafür, dass die differenziert formulierten Meinungen Gehör finden. Stärken Sie ihren Politikern den Rücken, damit sie für ihre Überzeugung eintreten können und nicht von links-rechts zerrissen werden. Ich würde mir wünschen, in Deutschland wieder ein stärkeres Interesse an der Tagespolitik seitens der differenziert denkenden Mitte zu sehen. Es ist falsch zu behaupten, man könne ja eh nichts ändern. Sondern weil Sie sich nicht engagieren, laufen die Dinge hier derzeit ziemlich aus dem Ruder. Wie schon vor einigen Wochen gesagt: Der Heibel-Ticker gibt die Meinung Ihres Autors wieder. Sie kennen Ihren Autor gut und Ihr Autor schreibt über das, was ihn bewegt. Sie sollen mich ordentlich beurteilen können und entsprechend musste ich dieses Thema einmal ansprechen. Wirtschaftliche Auswirkungen? Vernachlässigbar. Eine Studie kommt zu dem Ergebnis, dass Flüchtlinge länger benötigen, um in den Arbeitsmarkt integriert zu werden, als Migranten. 40% der finanziellen Mittel, die an Flüchtlinge gegeben werden, kommen über importierte Waren der ausländischen Wirtschaft zugute. Der Nachfrageeffekt, der von der Politik derzeit so stark beworben wird, führt auf absehbare Zeit und unter optimalen Verhältnissen zu einem Effekt von unter 0,1% mehr Wirtschaftswachstum unter'm Strich. Dabei ist die Belastung für unser Sozialsystem noch gar nicht berücksichtigt. Sprich: Es wird teuer. Aber das ist es mir wert, wenn dieses Thema endlich vernünftig angegangen würde. WOCHENPERFORMANCE DER WICHTIGSTEN INDIZES INDIZES (15.10.2015) | Woche Δ Dow Jones: 17.142 | 0,5% DAX: 10.065 | 0,7% Nikkei: 18.292 | -0,8% Euro/US-Dollar: 1,14 | 0,9% Euro/Yen: 135,52 | 0,0% 10-Jahres-US-Anleihe: 2,02% | -0,09 Umlaufrendite Dt: 0,42% | -0,01 Feinunze Gold: $1.176 | 2,6% Fass Brent Öl: $50,44 | -6,5% Kupfer: 5.285 | 0,0% Baltic Dry Shipping: 766 | -6,2% Kurz und heftig war die Korrektur, die uns diese Woche ereilte. Der DAX war vorübergehend 2,7% im Minus, erst bei 9.901 Punkte stoppte der Ausverkauf. Es war die Konsolidierung der vorhergehenden Kursgewinne insbesondere der zyklischen Aktien (Industrie, Rohstoffe). Aber auch Technologie und Biotech wurden weiterhin ausverkauft, es drohte ein Rückfall ins Baisse-Szenario. Doch letztlich war es nichts anderes als zuvor von mir angekündigt: Gewinnmitnahmen, die ich spätestens bei 10.300 Punkten erwartete, setzten bereits bei 10.170 Punkten ein. Es folgte sodann eine Rückkehr zu den alten Favoriten, den Wachstumswerten. So schossen gestern plötzlich Biotech- und Techaktien in die Höhe. Internet und die Cloud waren gefragt, aber auch die defensiven Dividendentitel, allen voran Portucel und Disney, schossen ohne besondere Meldungen in die Höhe. Unter'm Strich legte der DAX im Wochenvergleich um 0,7% zu, der Dow Jones um 0,5%. Schwache Konjunkturdaten aus den USA schieben den Zeitpunkt für die erwartete erste Zinserhöhung durch die US-Notenbank weiter in die Zukunft, inzwischen wird der erste Zinsschritt mehrheitlich erst im Jahr 2016 erwartet. Entsprechend verliert der US-Dollar an Stärke, der Euro legte um 0,9% zu. Die hochgekochten Konjunktursorgen haben auch den zuvor erstarkten Ölpreis wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. Nach +18,2% in der Vorwoche wurden diese Woche 6,5% abgegeben. Sorgen, die auch seitens der Transporttätigkeit Chinas unterstütz werden, der Baltic Dry Verschiffungsindex rutschte erneut kräftig ab. Einher gehen natürlich die Sorgen, ob es bei diesen Problemen überhaupt noch gelingen wird, sich von der Nullzinspolitik zu verabschieden, und schon gewinnt das verloren geglaubte Gold kräftig hinzu (+2,6%). | ||
Für Inhalt und Rechtmäßigkeit dieses Beitrags trägt der Verfasser Stephan Heibel die alleinige Verantwortung. (s. Haftungshinweis) | ||
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